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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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München scheint auch morgen wieder die Sonne‹, war sein erster Satz. Ich sah ihr Lächeln und wusste, dass ich ihr einen guten Rat gegeben hatte. Am 8. März 1933 verließ ich Deutschland. Die Überfahrt hatte ich mir komfortabler vorgestellt, wir durften nicht einmal an Deck. Und dann hieß es zwei Wochen warten, bevor wir gemustert wurden. Aber ich hatte Glück, auf der Träneninsel; für mich ging die Tür nach New York auf. Auf dem Schiff habe ich eine Frau kennen gelernt, deren Vater einen Frisiersalon aufgemacht hatte. Da habe ich Haare zusammengekehrt. Die richtige Beschäftigung für einen enterbten Sohn aus besserem Haus.«
    »Was war das für eine Frau, die du verlassen hast?«, wollte Anne nun doch wissen. Verwundert blickte er sie an. Bevor er antworten konnte, unterbrach sie ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es geht mich nichts an. Und ich will von der Vergangenheit nichts mehr wissen.«
    Martin kratzte sich an seinen geröteten Handgelenken. »An den Abenden habe ich mich ins Kino geschlichen, über den Notausgang. Es gab Filme über alles. Auch über das, was in Deutschland passierte. Ich habe genug gesehen, um zu wissen, was hier vor sich ging. Selbst tausend Kilometer weit weg.« Er strich sich über die Bartstoppeln. »Als der Krieg ausbrach, habe ich Heidemarie zum ersten Mal geschrieben, wegen des Kindes. Ihre Mutter antwortete, dass ›die Familie‹ in München wohne. Ich musste lachen, als ich den Brief las. ›Heidemarie bewohnt mit ihrem Gatten und dem Kind eine geräumige Wohnung im schönen München. Claus macht an seinem Institut Karriere.‹ Im schönen München. Einen Tag später war der Boss krank, und ich musste zum ersten Mal selbst Haare schneiden. Auch ich machte also Karriere. Dauerwellen waren meine Spezialität.«
    Martin lächelte matt und knöpfte sich den obersten Knopf der Uniformjacke zu. Selbst sein eitles Grinsen ekelte Anne inzwischen. Die Handrücken waren übersät mit roten Flecken. Vielleicht war er krank? Ihr wurde heiß, hoffentlich hatte sie sich nicht angesteckt.
    »Eine Patriotin hat mir zu Beginn dieses Jahres zugeflüstert, dass die Army tüchtige Friseure braucht und dass ihr Mann mir einen Job verschaffen könnte, ohne den Arsch hinhalten zu müssen. In Genua habe ich mich von der Army allerdings schon wieder verabschiedet. Fahnenflucht nennt sich das. Richtung München. Auf einen vaterlandslosen Friseur gibt niemand Acht, wenn gerade die letzte Schlacht geschlagen wird. In den folgenden Wochen habe ich meinen Namen öfter gewechselt, als ich gegessen habe. Die meisten lagen tot am Straßenrand. Man musste sich nur umziehen. Steckt jemanden in eine Uniform, schon ist er wer. So einfach funktioniert das hier.«
    Andras räusperte sich.
    »Also war die Erkennungsmarke, die wir dir geklaut haben, doch deine eigene? Ich habe sie aufbewahrt, bis heute.«
    Martin schüttelte den Kopf und sah an ihm vorbei aus dem Fenster. Winzige Schneekristalle wirbelten durch die Luft. Die kahlen Äste der Kastanie durchzogen die Dunkelheit wie Adern. Anne dachte unterdessen an Bill. Er war der erste uniformierte Amerikaner gewesen, den sie gesehen hatte. Der gutmütige Bill, immer mit einem Zigarettenstummel zwischen den Zähnen, an ihn hätte sie sich halten sollen …
    »Und jetzt zu dir«, riss Martin sie aus ihren Überlegungen, »und deinem Penzberg. Das Werwolfkommando, mit einem Poeten an der Spitze, der Gedichte aufsagt. Er hat mich persönlich an der Landstraße aufgegabelt und gefragt, ob ich etwas erleben will. Gott sei Dank trug ich gerade eine Wehrmachtuniform. Erleben wollte ich natürlich etwas. In Penzberg haben sie mir Flugblätter in die Hand gedrückt. Die sollte ich verteilen und abwarten. Das tat ich, während sie ihre Opfer zusammentrieben. Einer Frau habe ich meine Jacke über den Kopf gebunden, weil sie gar so erbärmlich gezittert hat, als sie ihren Mann aufhängten. Ich wollte nach München, mehr nicht. Alles andere ging mich nichts an, es war Krieg. Aus der Bäckerei neben der Linde hat es nach frischem Brot gerochen, die ganze Zeit habe ich mit knurrendem Magen daran denken müssen, erinnerst du dich, Anne?«
    Sie kniff die Lippen fest zusammen.
    »Natürlich erinnerst du dich. Du hattest eine weiße Schürze umgebunden. Und du hast mir aus dem Fenster zugenickt und dich auch nicht an den Befehl gehalten, es zu schließen. Schönen Männern blinzelst du immer zu, egal auf welcher Seite sie stehen. Man hätte es fast als Aufmunterung
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