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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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mechanisch. Nicht zum ersten Mal erlebten sie, dass die von ihnen Besuchten ausschließlich mit sich selbst befasst waren und für die frohe Botschaft kein Ohr hatten.
    Martin stieg auf das Bett, wobei er bis zu den Knien in der Daunendecke versank und beinahe das Gleichgewicht verlor. Mit einer Hand hielt er sich am Kopfende fest, die andere hielt er salutierend an der Schläfe.
    »Ich glaube, der Film ist zu Ende«, sagte er.
    Vielleicht hätte er noch schwimmen lernen sollen. Dann tat er einen Schritt an die hölzerne Kante und ging nachfedernd in die Knie. Hochschnellend stieß er sich ab und stürzte, an der entlaubten Kastanie vorbei, drei Stockwerke tief auf das Dach der Baracke, die sich der Hausmeister in den Hinterhof gebaut hatte. Aus der Küche drang ein beschwingtes Musikstück von Glenn Millers Army Air Force Band aus dem Radio.
    Die Adventisten begannen zu beten.

51
    Die »Engelsburg« ist nach mehreren Wanderjahren durch Deutschland in einer Scheune außerhalb eines alpenbewehrten Ortes im Süden von München untergekommen. Am Eingang wird das persönlich geladene Publikum streng gemustert. Wer keine Einladung vorweisen kann oder mit der Direktorin Maria bekannt ist, wird resolut auf die nächste Vorstellung verwiesen. Aber so etwas kam eigentlich nur früher vor, als es noch am Nollendorfplatz in Berlin ansässig war und die Schlange vor dem Kartenschalter sich Abendfür Abend weit in die Motzstraße hinein zog. Die Willkommenen winkt Maria mit immergleichem Refrain hinein:
    » Salve , guten Abend und carpe diem , radikale Stimmung heute, hübsche Gäste, schön, dass du da bist.« Seit dem Kriegsende streicht sie den Gästen mit dem rechten Daumen ein Kreuz auf die Stirn und fügt hinzu: »Schön, dass du noch lebst.«
    Manche erröten und drücken sich an ihr vorbei, andere lachen und entgegnen: »Dein Busen sitzt schief« oder »Du hast da einen Flecken unter deinem Ausschnitt«, lassen sich in die Wange kneifen oder auf den Hintern klapsen und gehen hinein. Diejenigen, die das Ritual nicht kennen, murmeln ein verunsichertes »Dankeschön« und stolpern in den von wenigen Kerzen notdürftig erleuchteten Raum.
    So sitzen am 17. Juli 1945, einem lauen Sommerabend, zwei Dutzend Männer und ein paar weniger Frauen auf hölzernen Bänken vor einer aus einem Heuwagen improvisierten Bühne und betrinken sich mit Sekt aus amerikanischen Militärbeständen. Die Männer haben ihre Hüte aufbehalten, die Frauen halten die Handtaschen im Schoß. Auf den Tischchen aus Obstkisten wackeln die Gläser, und nur dem beherzten Einschreiten eines Zuschauers ist es zu verdanken, dass eine umgestoßene Kerze nicht die Scheune in Brand setzt.
    Die »Engelsburg« ist weniger für die Güte ihres Programms als für die anheimelnde Atmosphäre bekannt. Das ist heute nicht anders als noch zu Berliner Zeiten. An diesem Abend treten auf: ein kleinwüchsiger Tenorino namens Schmitt mit zwei t, ein breitlippiger Jongleur im Rollstuhl, eine Damencombo mit verstimmten Balalaikas und schließlich, bevor Maria das Programm beschließt, Tosca, Sängerin. – Sie erlangte in den frühen Vierzigern in gewissen Kreisen eine flüchtige Bekanntheit durch eine Parodie auf einen hohen Beamten. Auf Grund der Intervention eines noch höherenBeamten kostete sie ihre Unbedachtheit nicht das Leben, sondern nur ihre Zeugungsfähigkeit. Der Eingriff wurde in der Berliner Charité vorgenommen und verlief ohne Komplikationen. Nach der Entlassung zog sich Tosca von der Bühne zurück, hängte die Frauenkleider in den Schrank und lebte zurückgezogen in einem kleinen Dorf als Verkäufer der Metzgerei »Schulte« im Sauerland.
    Marias Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass Tosca seit dem Zusammenbruch wieder vor das Publikum tritt, vor allem aber der Trostlosigkeit der deutschen Provinz. Nun singt sie die Lieder und Operettenarien von damals nach, wie immer in einem weißen Seidenkleid mit um den Ausschnitt appliziertem Samtband und passenden Handschuhen. Doch die letzten Jahre und die kaum verheilten Narben der Operation liegen wie Blei auf ihren Stimmbändern. Kaum einen Ton trifft sie noch, was sie jedoch durch den Einsatz ihrer heftig rollenden Augen und einer geradezu grotesken Gestik wettmacht.
    An diesem Abend hat sie keine Lust aufzutreten, ihre Hände zittern und ihr Unterleib schmerzt. Sie kann nur mit einem Schmerzmittel singen und sieht bettelnd zu Maria, die streng nickt und mit dem Kopf auf die Garderobe hinter der Bühne weist. Das
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