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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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zusammengebettelt oder gestohlen: Die zerschlissene, dunkelbraune Kordhose hatte ihm eine Bäuerin aus Mitleid geschenkt, das beige Leinenhemd und die Unterhose gehörten einem Landarbeiter, der so dumm gewesen war, sie beim Baden im Fluss unbeaufsichtigt am Ufer liegen zu lassen. Die Stiefel und die graue Wehrmachtjacke hatten wohl schon den eisigen Osten gesehen. Martin hatte sie einem Soldaten, der sich zum Sterben hinter ein Gebüsch verzogen hatte, mit Gewalt heruntergerissen. Der Rucksack schließlich, mitsamt Inhalt, war Eigentumdes Fahrers – die gerechte Strafe dafür, dass er ihn nicht wie versprochen bis nach München mitnahm.
    Der Lastwagen hatte inzwischen auf dem Feldweg einen imposanten Bauernhof erreicht und hupte dreimal kurz. Von der Straße aus beobachtete Martin, wie zwei schwarz gekleidete Frauen aus dem Wohnhaus traten. Mit einem Ruck hielt der Wagen an, worauf die Frauen auf die Ladefläche kletterten und gemeinsam die braunen Säcke hinunterwarfen, die Martin während der Fahrt als Matratze gedient hatten. Der Fahrer stieg nicht aus. Sobald die Frauen alles abgeladen hatten, wendete er umständlich und fuhr davon.
    Martin drückte den Hut auf die störrischen schwarzen Stoppeln und ging querfeldein auf den Hof zu. Von den Frauen könnte er wenigstens erfahren, wo er genau war. Irgendwo zwischen Mittenwald und München, soviel war klar. Aber die beiden wollten ihm anscheinend nicht begegnen, denn kaum hatten sie die Säcke zu einem Holzschuppen gezerrt, verschwanden sie auch schon ins Wohnhaus, das mit einem Viehstall und einem Heuschober aus dunkel gebeizten Holzplanken den Innenhof einfasste. Martin sah sich um. Links und rechts neben der wuchtigen Haustür waren Blumenbeete angelegt, die in allen Farben des Sommers leuchteten. Neben der Tür lag eine gefleckte Katze in der Sonne. Als sie ihn bemerkte, hob sie den Kopf, zuckte mit den Ohren und begann in aller Ruhe, sich die Pfoten zu lecken. Im Kies pickten Hühner und aus dem Stall grunzte es aufgeregt. Der Wind fuhr durch die Krone einer riesigen Kastanie, die den Heuschober von hinten überdachte. Eine bayerische Idylle wie im Bilderbuch. Der Krieg war unendlich weit weg.
    Unvermittelt öffnete sich die Tür zum Bauernhaus, und ein Hund mit zottigem schwarzem Fell schoss, sich vor Jagdlust fast überschlagend, auf Martin zu. Instinktiv griff ernach einer Heugabel, die neben ihm an der Lattenwand des Holzschuppens lehnte. Mit hängenden Lefzen setzte der Hund zum Sprung an. Martin stach zu. Der Hund jaulte auf. Die Gabel hatte seine linke Vorderflanke getroffen. Mit eingezogenem Schwanz humpelte er über den Hof davon.
    Martin starrte auf die vom Blut rot gefärbten Zinken. Alles war so schnell gegangen, dass er jetzt erst erschrak. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Der Krieg war doch nie weit weg in diesem Sommer. Er nahm den Hut ab und ließ ihn fallen, als er vom Wohnhaus her ein Geräusch vernahm. Aufblickend zuckte er zusammen. Aus dem Türspalt war der Lauf eines Jagdgewehrs auf ihn gerichtet. Beim Stehlen von Obst war er schon öfter mit einem Gewehr vertrieben worden. Aber er war kein ordinärer Dieb! Befürchteten die Frauen, er wolle die Säcke mit dem wertvollen Inhalt mitnehmen? Langsam hob er die blutige Mistgabel mit beiden Händen fest umklammert in die Höhe und schüttelte mit einem einschmeichelnden Lächeln den Kopf, um zu signalisieren: Seid unbesorgt, ich will eure Schwarzmarktware nicht … Inner tubes stand mit schwarzer Schrift auf den Säcken. Dass man mit Fahrradschläuchen auf bayerischen Bauernhöfen keine Schweine fütterte, war jedem klar. Und dass mit amerikanischen Militärbeständen in diesen Wochen überall krumme Geschäfte gemacht wurden, war ihm ebenfalls bekannt. In Kriegszeiten war es am besten, die Klappe zu halten und zu lächeln.
    Die Säcke waren das eine Problem, doch das viel dringlichere war, dass in diesem Moment die beiden Knöpfe rissen, welche die Lederriemen seines Hosenträgers hielten, und die zu weite Kordhose in einer fließenden Bewegung an seinen Beinen hinunterglitt. Der Lauf des Gewehres senkte sich, und die Tür ging auf. Im dunklen Hausflur stand eine alte Frau in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid. Ihrgrauer Haarzopf reichte ihr bis zur Hüfte. Sie musterte ihn in einer Mischung aus Zorn und Schadenfreude.
    Martin blickte an seinem bis zum Nabel aufgeknöpften Hemd hinab. Was er sah, gefiel hoffentlich auch der alten Frau. Unter der langen Silberkette hob und senkte sich
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