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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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bekreuzigt sich mit einer ausladenden Bühnengeste. An ihren Unterarmen treten die Adern bläulich schimmernd vor. Über den Handschuhen haben sich blonde Härchen aufgerichtet. Sie passen nicht zu ihrem kohlrabenschwarzen Haar. Eine der beiden Farben kann nicht echt sein, doch im Dunkeln fällt das nicht weiter auf.
    Tosca ist keine schöne Frau: hoch aufgeschossen, mit spitzen Schultern und um die Hüften viel zu schmal. Die Brüste hängen so tief, dass mancher nach ihnen forschende Blick sich in ihrem Ausschnitt verliert. Dennoch kann sich ihrer Ausstrahlung kaum einer entziehen, dieser seltsamen Mischung aus Unnahbarkeit und Schamlosigkeit. Irgendetwas stimmt mit dieser Frau nicht, mahnt zur Vorsicht. Bis sie lächelt: ein strahlendes, offenes Lächeln, das allen Argwohn schlagartig beiseite wischt. Dabei ist ihr Blick aus den grüngrauen Augen von den schweren Lidern leicht verschattet, wenn sie ihr Gegenüber mustert. Ihr Gang hingegen hat etwas preußisch Korrektes. Aber sobald sie sitzt und die Beine kokett übereinanderschlägt, verströmt sie eine Milde, die sich allerdings weniger aus Herzenswärme speist denn aus erkalteter Leidenschaft.
    Doch nun steht sie zitternd und wenig souverän an eine kalte Steinmauer gelehnt und starrt angestrengt in den dunklen, vom Sternenlicht erhellten Himmel, der sich über der Bühne weitet. Ohne Wolken ist er ihr suspekt. Man sieht zu viel bei klarem Wetter, selbst in der Nacht. Tosca bevorzugt das Halbdunkel, wenn die Schatten mit der Umgebung verschmelzen. Ihre Vorzüge kommen dann besser zur Geltung.
    Die goldenen Sternlein prangen , fährt ihr unwillkürlich durch den Sinn. Unmittelbar darauf fragt sie sich, warum ihr in diesem Moment solcher Blödsinn einfällt. Sie sollte sich besser auf das Ende konzentrieren, schließlich ist es ihr erster und allem Anschein nach letzter Auftritt in der Münchner Oper. Die große Arie im zweiten Akt hat sie bereits erfolgreich gemeistert und auch den Mord. Tosca muss Scarpia töten. Das Scheusal Scarpia. Nur einmal musste sie zustoßen, knapp unter der Schulter, dort, wo sie das Herz vermutete. Selbst einem Scheusal schlägt ein Herz in der Brust.
    Sie will nicht weiter singen, nur schreien, laut und durchdringend, dass man es bis in die letzte Reihe hört, bis hinauf in den hintersten Winkel der Galerie: damit jeder weiß, was sie getan hat. Sie zittert und schließt die Augen. Nun steht das Finale des dritten Aktes aus, Toscas tödlicher Sprung von der Engelsburg, nachdem sie bemerkt, dass ihr Liebhaber erschossen wurde.
    Die Stuhlreihen des Parketts sind mitsamt den Rängen und Balkonen nach Bombardierung und Brand verschwunden. Die Zugänge zu den Logen markieren finstere Einschnitte in den nackten Wänden. Ein rostendes, verbogenes Eisengestänge erinnert noch an das gewaltige Portal, hinter dem sich früher der Vorhang mit einem großen Bausch vor den Sängern schloss. Wo die Bühne gewesen war, gähnt ein tiefes Loch. Deswegen tritt Tosca am Rand des Abgrunds, im ehemaligen Zuschauerraum, auf. Im riesigen Zuschauerraum des ausgebombten Nationaltheaters harrt ein einziger Zuschauer auf seinem Platz aus. Er sitzt auf einem mitgebrachten Klappstuhl, den Blick in starrer Bewunderung auf Tosca gerichtet. Wie verwachsen wirkt er mit den herumliegenden Trümmern, wie ein stummes Mahnmal an die glanzvollen Aufführungen vergangener Jahre.
     
    Die Besetzung für Puccinis Oper bei der Aufführung am 17. Juli 1945 ist ebenso überschaubar: es spielt nur ein Musiker. Schräg hinter der Stelle, an der früher das Dirigentenpult stand, sitzt er mit gesenktem Kopf und seiner Klarinette auf einem Steinblock, der früher zur Proszeniumsloge gehörte. Vor ihm klafft der Orchestergraben, im Nichts verschmolzen mit der Bühne. Auch die Untermaschinerie ist komplett vernichtet. Mindestens zwölf Meter geht es hinab. Es gibt kein Licht, doch der Klarinettist braucht keine Noten. Die Oper kennt er auswendig. Wenn er einmal nicht weiter weiß, improvisiert er über das Thema aus Toscas Arie. Da außer der Sopranistin kein anderer Sänger auftritt, überspringt er ganze Szenen. Der Zuschauer scheint nicht einmal bemerkt zu haben, dass er Scarpias ›Te deum‹ am Ende des ersten Aktes gestrichen hat. Verstohlen sieht der Musiker auf die Uhr: kurz vor zwölf. Was für ein gespenstischer Abend! Wie gut, dass die Oper bald zu Ende geht. Nach Toscas Sprung kann er endlich zusammenpacken und nach Hause fahren. Langsam wird es ungemütlich
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