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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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Überall knackte, zirpte und piepste es. Starr hielt er den Blick nach vorne gerichtet. Kerzengerade führte die Straße ins Dunkle. Die Bäume wandten sich ihm zu und schienen ihn zu belauern.
    Schluss mit dem Unfug! Er war doch kein Kind mehr. Er lief durch einen Wald und weiter nichts. In seiner Unterhose juckte es. Martin kratzte sich und musste wieder an den Fahrer des Lastwagens denken. Bill. Ein texanischer Farmerssohn. Manche Amerikaner meinten es mit den Deutschen einfach zu gut, ununterbrochen wollten sie ihnen aus einem unverständlichen Siegerkomplex heraus helfen. Wahrscheinlich hatte Bill ihn nur deswegen abgesetzt, weil Martin ihm am Mittag ins Gesicht gesagt hatte, was er von den Deutschen hielt. Nichts. Wenn nicht noch weniger als nichts. Nach allem, was er von ehemaligen Lagerhäftlingen erfahren undselbst gesehen hatte, empfand er nur Abscheu. Wie gut, dass ihn das nichts anzugehen hatte.
    Endlich lichtete sich der Wald zu seiner Rechten. Kurzentschlossen kletterte er den Hang hinauf, verhedderte sich im Gestrüpp, riss sich los und stolperte in ein dunkelgrünes Pflanzenmeer. Augenblicklich brannten seine Hände und das Gesicht wie Feuer. Er rappelte sich auf und stampfte wütend die Brennnesseln platt.
    Schwer atmend stand er schließlich auf einer Anhöhe. Rechts zeichnete sich im Mondlicht die Silhouette der Alpenkette ab. Auf dem Kamm des Hügels schlängelte sich ein Trampelpfad durch das kniehohe Gras, der von Holzbänken gesäumt war. Martin ging zur nächstgelegenen, setzte sich und sah sich um. Der steile Abhang vor ihm war frisch gemäht. Das Heu war zu duftenden Haufen zusammengerecht. Weiter unten ließen sich gerade noch die Umrisse eines Schobers ausmachen. Danach verlor sich alles in einem nachtblauen, geheimnisvollen Nichts, das übergangslos mit dem schwarzen Himmel verschmolz. Die Welt unter ihm und die Sterne über sich gehörten ihm. Yes, Sir! O. k., Sir! Lässig salutierte er zu den Bergen.
    Anschließend holte er aus dem Rucksack den Laib Brot sowie die Hartwurst heraus und stopfte sie sich in den Mund. Dazu trank er das Brunnenwasser aus der Aluminiumflasche. Der einfältige Bill hätte wohl nicht im Traum daran gedacht, dass Martin ihn bestehlen würde. Dabei sollte er froh sein, weniger mit sich herumschleppen zu müssen. Am Schicksal der Deutschen hatte er genug zu tragen …
    Als er fertig war, zog Martin die graue Wehrmachtsjacke aus und das Hemd aus der Hose. Dabei pfiff er die Melodie einer Jazznummer, die ihm seit dem Schuss durch den Kopf schwirrte. Die Welt gehörte ihm und nur ihm, und vielleicht ein bisschen auch der Grille, die irgendwo ohrenbetäubendlaut zirpte. Eine Welle von ungebändigter Lebenslust durchströmte ihn, so dass er plötzlich nicht wusste, wohin mit seiner Kraft. Die Aluminiumflasche lag gut in der Hand, wie die ideale Mischung aus einem Speer und einem Baseball. Prüfend schlenzte er sie von links nach rechts und wieder zurück. Ohne darüber nachzudenken stand er auf, holte aus, nahm drei Schritte Anlauf und warf die Flasche mit einem lauten Schrei in die Nacht. Lange blickte er nach oben und beglückwünschte sich mit einem zweiten Jauchzer, seinen ersten Stern vom Himmel geholt zu haben.
    Mit sich und der Welt zufrieden bettete er daraufhin seinen Kopf auf den nun leeren Rucksack. Ohne zu bemerken, dass neben der übernächsten Bank, nur hundert Meter entfernt, eine Frau auf einer Decke im Gras kauerte und zu ihm herüberstarrte. Unter ihrem kastanienbraunen Kopftuch wand sich eine rotblonde Locke heraus. Drei Stunden zuvor hatte sie von Paula verlangt, den hübschen Plünderer zu erschießen. Nun sah sie mit klopfendem Herzen zu, wie er innerhalb weniger Sekunden in einen traumlosen Schlaf versank. Es war noch nicht zu spät für sie, Gerechtigkeit zu üben.

2
    Der dritte Akt beginnt für Tosca mit einer quälend langen Pause.
    Sie friert. Das Kleid aus durchschimmernder weißer Seide schlottert ihr um die Beine. Um die Taille läuft ein mattblaues Samtband, mit dem auch der sichelförmige Ausschnitt besetzt ist. An den hohen Absätzen ihrer Schuhe klebt Gras, als käme sie direkt von einem Spaziergang über eine frisch gemähte Wiese. Der rechte drückt am kleinen Zeh. Seit Tagenleidet sie an einer Blase. Es ist ihr einziges Paar Schuhe. Ein Loch hineinschneiden möchte sie nicht, dafür ist sie zu eitel. Sie leidet lieber.
    Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder. An den Rest des Gebets kann sie sich nicht erinnern. Sie
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