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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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sein kräftiger Brustkorb. Ein bisschen heftiger vielleicht als bei einem Filmhelden in vergleichbarer Situation, aber für eine bayerische Bäuerin sollte es reichen. Sein Blick wanderte weiter zu der unförmigen Unterhose. Wie ein Sack hing sie ihm fast bis zu den Knien und hielt nur dank einer um die schmale Taille geknoteten dicken Schnur. Abrupt hob er den Kopf und grinste die alte Frau entschuldigend an. Aus den Augenwinkeln nahm er dabei wahr, dass sich hinter einem Fenster die Vorhänge bewegten. Auch die andere wollte sich einen halbnackten Mann wohl nicht entgehen lassen. Mit Frauen hatte er meist leichtes Spiel. Im Umgang mit Männern war er weniger geschickt.
    Zuversichtlich ließ er die Heugabel sinken. Den wehrlosen Helden in Unterhosen zu erschießen – so etwas kam in keinem Film der Welt vor. Doch das ließ sich anscheinend auch anders sehen, denn aus dem Haus rief jemand aufgebracht:
    »Schieß ihn tot, Paula!«
    Er hätte den Körper zur Stimme gerne gesehen. Doch die Unsichtbare hielt sich verborgen. Paula gehorchte nicht, vielmehr musterte sie den Plünderer von oben bis unten und versuchte, dabei möglichst abweisend dreinzublicken. Seine Jugend und Kraft rührten sie. Der Bub in seiner viel zu großen Unterhose mochte so alt sein wie ihr einziger Sohn. Ihr toter Sohn. Auf keinen Fall älter als dreißig. Seine dunklen Haare waren wie die von Leopold kurz geschoren. Wie die aller Soldaten. Sechs Jahre hatte Paula gebraucht, um zu verstehen, dass sie allesamt bloß Burschen in viel zu großen Unterhosen waren. Ob Freund oder Feind. Und dass daheim derenMütter und Frauen sich nichts sehnlicher wünschten, als ihnen auch in Zukunft diese Unterhosen waschen zu dürfen. Das also war der Krieg, mehr nicht. Sie presste die bebenden Lippen aufeinander. Ohne ein Wort zu sagen, trat sie einen Schritt zurück und verriegelte die Tür von innen. Sollte das Früchtchen mit dem entwaffnenden Lächeln eben ein Huhn mitgehen lassen! Es gab unansehnlichere Plünderer.
    Erleichtert stellte Martin die Heugabel zurück an die Wand und bückte sich, um seine Hose hochzuziehen und sie mit der Kordel der Unterhose festzubinden. Den eingestaubten Hut ließ er liegen. Ob die junge Frau, die seine Erschießung gefordert hatte, noch herauskommen würde? Den Hofhund auf ihn zu hetzen war eigentlich genug. Ihn zu töten ging eindeutig zu weit. Er hätte sie gern gefragt, was er ihrer Meinung nach verbrochen hatte, außer dass er überhaupt existierte.
    In aller Ruhe füllte er die Aluminiumflasche aus seinem Rucksack am Brunnentrog vor den Blumenbeeten auf. Dabei blieb sein Blick an den Margeriten hängen. Er pflückte eine leuchtend weiße Blume und legte sie auf die Schwelle der Tür, durch die Paula verschwunden war, als kleine Geste der Dankbarkeit, dass sie ihn nicht erschossen hatte. Aus dem Haus drang kein Laut. Als er an dem Hund vorbeiging, der neben dem Feldweg blutend und hechelnd im Gras lag, hob dieser nicht einmal den Kopf.
    Martin folgte dem Weg zur Straße, dem Militärlastwagen nach. Auf der noch ungemähten Wiese blühten Wiesensalbei, Skabiosen, Klappertopf und Hornklee. Er war kaum hundert Meter gegangen, als es knallte. Der Hund jaulte markerschütternd auf und verstummte. Dann war es still. Bedrückend still. Selbst die surrenden Insekten hielten für einen Augenblick inne. Die heiße Sommerluft vibrierte. Martin zog unwillkürlich die Schultern hoch. Der nächste Schuss würdewohl ihm gelten. Die unsichtbar gebliebene Frau hatte diese Paula anscheinend überzeugt, ihn nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Martin wollte seine Henkerin nicht sehen. Ohne Eile setzte er einen Fuß vor den anderen. Doch trotz aller Anstrengungen, unbekümmert zu wirken, verkrampften seine Schultermuskeln.
    Aber nichts geschah. Eine Krähe blickte ihn mit schief gelegtem Kopf von unten an und gab ihm zur Seite hüpfend den Weg frei. Mit knapper Not war er zum dritten Mal in der letzten halben Stunde davongekommen.
    Auf der Straße beschleunigte er seine Schritte. Man musste nach vorne sehen. Wer sich umdreht, hat bereits verloren. Martin drehte sich nicht um. Und hielt auch eine Stunde später nicht an, als ihm die Riemen des Rucksackes immer schmerzhafter in die Schulter schnitten. Ein Schmetterling flog ihm voraus, kreuzte mehrfach seinen Weg und ließ sich schließlich auf einer Graslilie am Straßenrand nieder. Erst jetzt achtete Martin auf die Geräusche der einbrechenden Dämmerung. Sie waren ihm unheimlich.
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