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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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verlieren.
    Im Wort Zugehörigkeit steckt der Begriff des Hörens, doch auch dieser muss erst geklärt werden:
    ~ Hören kann man rein organisch ohne viel Verständnis;
    ~ man kann aber auch intuitiv mit dem geistigen Ohr der Phantasie vorausahnen, was man wohl zu hören bekommen wird;
    ~ man kann auf bestimmte Worte hören und damit wiederum unterschiedliche Botschaften heraushören;
    ~ man kann aber auch, wenn man darauf »geeicht« worden ist, wie es in manchen psychotherapeutischen Methoden praktiziert wird, mit dem sogenannten »dritten Ohr« 23 unausgesprochene unbewusste Botschaften entschlüsseln.
    In dieser Unterscheidung zeigt sich bereits, dass viele Menschen nur einen Wahrnehmungskanal nutzen, einesteils, weil es ihnen so beigebracht wurde und sie gehorsam – auch da steckt der Begriff des Hörens drinnen! – sein wollen, anderenteils, um sich vor unerwünschten Gefühlen zu schützen. Solche können bereits bei nur gedanklichem Ungehorsam auftreten und zu massiver Angst oder ihrem Gegengefühl, massiver Wut führen. Da im gegenwärtigen Zeitgeist Coolness, also Freisein von Affekten und auch sonstigem Gefühlsausdruck, propagiert wird, erschöpfen sich viele Menschen nicht nur in deren Unterdrückung, sondern bereits in ihrer Selbstwahrnehmung.
GANZHEIT
    Von C. G. Jung stammt die Anordnung der vier Grundformen der Wahrnehmung und damit auch des Bewusstseins in je zwei Gegensatzpaare: körperlich empfinden und intuitiv erahnen sowie seelisch fühlen und kognitiv denken. Entscheidend ist nicht, was man denkt, »sondern dass man mit der Funktion des Denkens und nicht z. B. des Intuierens an die Aufnahme und Verarbeitung der vom Außen oder vom Innen sich uns stellenden Inhalte herangeht«, und weiter: »Denken ist daher jene Funktion, welche vermittels einer Denkarbeit, also der Erkenntnis – d.h. begrifflicher Zusammenhänge und logischer Folgerungen – zum Verstehen der Gegebenheiten der Welt und zur Anpassung an sie zu gelangen sucht. Im Gegensatz dazu wird es durch die Funktion des Fühlens aufgrund einer Bewertung durch die Begriffe ›angenehm oder unangenehm, bzw. annehmen oder abwehren‹ erfasst.« 24 Jung bezeichnet beide Funktionen als »rational«, weil sie »mit Wertungen arbeiten«. Empfindung und Intuition benennt er hingegen »irrational«, weil sie »bei Umgehung der Ratio nicht mit Urteilen, sondern mit bloßen Wahrnehmungen, ohne Bewertung oder Sinnverleihung arbeiten.« 25
    Angst beispielsweise kann demnach auf viererlei Weise entschlüsselt werden: Körperlich manifestiert sich Angst in schnellerer und flacherer Atmung – der Körper macht sich fluchtbereit; in Kältegefühl – die Blutgefäße verengen sich, um möglichen Blutverlust bei Verletzung gering zu halten; kalter Schweiß bricht hervor, »es beutelt einen«. Seelisch bewirkt Angst Gefühle von Beklemmung, Anspannung, erhöhter Wachsamkeit, wohingegen intuitiv Phantasien möglicher Bedrohungen auftauchen; auch wenn viele Menschen nicht gewohnt sind, geistige Bilder wahrzunehmen, treten solche zumindest schemenhaft auf. Im kognitiven Denkprozess hingegen wird bewusst entschlüsselt, dass man Angst hat (und nicht nur eine Befürchtung) und wovor, was man dagegen tun könnte und welche Ressourcen, d. h. Hilfsmittel und Fähigkeiten, dazu nötig wären. Das können dann wiederum körperliche, seelische oder intuitive sein.
    Körper, Seele und Geist sind eine Einheit und beeinflussen sich wechselseitig, vor allem aber komplex. Das klassische juristische lineare Denken – »Auf A folgt B«, daher muss es immer eine klare Ursache und klare Schuldige geben – hilft zwar, schnelle Rache zu üben oder Wiedergutmachung einzufordern, verengt aber den Blick auf die vielen Möglichkeiten, wie eine Situation verbessert werden könnte.
    »Situationen, die einen überfordern, muss man vermeiden«, gab einmal ein lieber Freund von sich, ein soldatischer Mann, gewohnt zu befehligen und zu gehorchen. Ich, Juristin, und gewohnt, Verträge zu konzipieren und daher auch zu verhandeln, dachte mir dazu: »Und so lernt man nichts dazu und entwickelt sich nicht weiter!«
    Angst zu bewältigen
kann man lernen, wobei Bewältigen
nicht Verleugnen bedeutet.
    Angst zu bewältigen kann man lernen, wobei Bewältigen nicht Verleugnen bedeutet. Am schnellsten und leichtesten geht das über die bewusste Steuerung des Atems.
    Im Jugendstiltheater, einem Prachtbau des Architekten Otto Wagner, auf dem Areal des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien,
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