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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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beachtet, daher bloß in diese eine Richtung gedacht und folglich »krank geschrieben« wird. Die anderen beeinflussenden Faktoren werden weitgehend ignoriert; es ist zwar modern geworden, im Sinne der sogenannten Lebensstilmedizin auch Ernährung, Bewegung und Entspannungsgewohnheiten zu hinterfragen 18 , vielleicht auch private Beziehungsprobleme in Erwägung zu ziehen – der Blick bleibt aber unverändert in Richtung auf den »Patienten«, den leidenden Menschen gerichtet. Er oder sie soll sich halt »anpassen« – durchaus im Sinne des Darwin’schen Axioms vom »survival of the fittest« 19 – und auf größere Stresstoleranz hin trainieren. Aber genau diese Unterwerfungsstrategie unter das geheime Erziehungsmodell – jung, schön, belastbar, widerspruchslos – ist der Weg in Burn-out und Erschöpfung.
ZUGEHÖRIGKEIT
    Es gehört zu den Grundbedürfnissen des »Sozialwesens« Mensch, sich in einer Gemeinschaft geborgen zu fühlen. Deshalb ist er auch nach der Theorie des Philosophen René Girard bereit, »auf dem Altar der Gruppenzugehörigkeit bereitwillig ein Opfer« darzubieten. 20
    Ist es zu Beginn des Lebens zuerst die Symbiose, dann die Dyade, d. h. innige Zweisamkeit, mit der Mutter bzw. ihrer Ersatzperson, erweitert sich dieser »soziale Uterus« durch die Zuwendung von ihnen nahe stehenden Personen. Schön, wenn der Erzeuger des Kindes die nötige Väterlichkeit aufbringt, auch seine Aufmerksamkeitsenergie, Geduld und Akzeptanz sowohl allein wie auch als Paar gemeinsam mit der Mutter dem Nachwuchs zu schenken – und wenn dies, aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich ist, eine Herausforderung an soziale Kreativität, dazu eine neue Form zu entwickeln. 21
    Diesem Grundbedürfnis, akzeptiert zu werden, wie man ist, steht die Grundangst vor dem Herausfallen aus der sozialen Gemeinschaft gegenüber – war sie doch in frühester Kindheit Voraussetzung für das Überleben. Mit zunehmendem Alter sollte sie zunehmender Autarkie und Autonomie weichen. Sie führt andernfalls zu gesundheitsschädlicher Anpassung an fremdbestimmte Vorgaben, egal, ob sie aus der Familie, dem Beruf oder den Medien stammen, und frisst Energie, die man besser, nämlich zu sozialen Innovationen nutzen könnte.
    Solche Ängste gestand sogar ein Genie wie Nikolaus Kopernikus im Vorwort zu seinem Werk »De Revolutionibus Orbium Coelestium« (»Über die Umlaufbewegungen der Himmelskörper«), das er erst kurz vor seinem Tod und auch nur auf Drängen seines einzigen Schülers Rheticus zur Veröffentlichung frei gab: »Ich kann mir leicht vorstellen …, dass manche Leute, sobald sie erfahren, dass ich in diesem von mir über die Umlaufbewegungen der Himmelskörper verfassten Buch der Erde gewisse Bewegungen zuweise, sofort ein Geschrei erheben werden, dass ich und meine Theorie zurückgewiesen werden sollten. Wenn ich in meinem eigenen Geist erwog, wie absurd ein solches Unterfangen denen erscheinen muss, die wissen, dass das Urteil vieler Jahrhunderte dieser Ansicht zugestimmt hatte, dass die Erde der unverrückbare Mittelpunkt des Himmels sei, und statt dessen versichern würde, dass die Erde sich bewegt – wenn ich all dies sorgsam erwog,
dann brachte mich die Verachtung, die ich wegen der Neuartigkeit und scheinbaren Abwegigkeit meiner Ansicht befürchten musste, beinahe dazu, die Arbeit aufzugeben, die ich begonnen hatte.«
22 (Hervorhebungen R.A.P.) In unserer Zeit hätte ihn vermutlich ein wohl kalkulierender Verleger zur Herausgabe gequält, da er sich von dem zu erwartenden Skandal zu Recht kaufmännischen Gewinn erhoffen könnte.
    Dem Grundbedürfnis,
akzeptiert zu werden, wie man ist,
steht die Grundangst vor dem
Herausfallen aus der sozialen
Gemeinschaft gegenüber.
    Doch wer kennt diese Anwandlung von Unsicherheit und Furcht, die Kopernikus beschreibt, nicht auch aus dem eigenen Leben? Man kann sie Angst nennen oder Vorsicht, mangelndes Selbstvertrauen oder realistische Einschätzung von Reaktionen – man bleibt dabei nur auf der
einen
Seite der sozialen Interaktion; es gibt aber auch die andere: die der Neider, jedoch vor allem der Verächter, Spötter, Ignoranten, Veränderungsunwilligen oder aber auch der nur Machtbewussten, die deshalb keine Kritik oder Entwicklung zulassen wollen, weil dann ihr Allprimat gefährdet wäre. Egal, von welcher Seite man solches Ringen um oppositionelle oder auch nur ergänzende Sichtweisen betrachtet – man stößt auf Ängste. Ängste, Zugehörigkeit und damit Energie zu
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