Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
Vom Netzwerk:
Mensch« lautete ein Wahlslogan in den 1980er Jahren. Es stand aber nicht der Mensch inmitten seiner Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen im Blickpunkt (wobei der Arbeitsplatz Haushalt selbstverständlich dazu zählt, denn Kraftverlust tritt nicht nur bei Erwerbstätigen auf). Das ist ja auch für Angehörige von Dienstleistungsberufen wie Psycholog/innen, Arbeitsmediziner/innen oder Unternehmensberater/innen die einfachere Blickrichtung; die schwierigere wäre die hin zur Arbeitsorganisation und zu den Managern, die ihre »Fürsorgepflicht des Arbeitgebers« allein durch Anordnung von Schutzverhalten gegen Arbeitsunfälle für erfüllt erachten.
    Es ist immer leichter, »Störungen« im erwarteten Verhalten anderer als krank zu erklären, als etwa das eigene Kommunikationsverhalten, vor allem aber dessen Inhalte wie etwa Befehle, Drohungen, Demütigungen etc., kritisch zu überprüfen. Patient bedeutet »Leidender«, aber auch »Erduldender« und »Duldender«.
    Das Wort »leiden« macht mich kritisch hellhörig ebenso wie das Wort »Krankheit«. In der sogenannten systemischen therapeutischen Arbeit bewährt sich die Technik des »Differenzierens«. So wie im ärztlichen Bereich die Differenzialdiagnose Verwechslungen ausschließen soll, achten korrekte Systemi- ker/innen auf die jeweilige Wortwahl: Bedeutet »leiden« Schmerzen haben oder nur, dass es jemandem »nicht gut geht«? Oder dass man traurig ist? Sorgenbelastet? Oder dass man von unangenehmen Zwangsgedanken heimgesucht wird?
    Wenn sogenannte Expert/innen ein Wort gebrauchen, mit dem üblicherweise bestimmte Situationen und folglich Gefühle verbunden werden, braucht es ein inneres Anhalte- und Überprüfungs-Gebot, um Dramatisierungen – oder Verharmlosungen – zu enttarnen. Angehörige von Berufen, die medizinische oder psychologische Dienstleistungen anbieten, neigen zu Negativüberzeichnungen, sofern sie freie Kapazitäten besitzen und Kundschaft anwerben wollen – egal ob für Privatkliniken, Bücher oder Medienauftritte (womöglich noch mit Outings von Klient/innen) –, hingegen wiegeln sie oft ab, wenn sie überlastet sind und sich nicht mit drängenden Patientenwünschen auseinandersetzen wollen. Die Wahrheit – ob sie gerne neue Kundschaft gewinnen möchten oder nicht – sagen die wenigsten. Viele denken darüber auch gar nicht nach, sondern beten unbedacht wiederum mediale Informationen nach.
    »Während der Arzt es zunehmend mit Zuständen zu tun hat, bei denen die Behandlung unwirksam, teuer und qualvoll ist, beginnt die Medizin die Prävention zu vermarkten«, zeigte der Historiker, Philosoph, Theologe und römisch-katholische Priester Ivan Illich bereits 1976 auf. »Der Begriff ›Morbidität‹ wird dahingehend erweitert, dass er auch die Risiken der Prognose deckt. Zusammen mit der Krankenfürsorge ist auch die Gesundheitsvorsorge eine Ware geworden – etwas, wofür man bezahlt, statt dass man es selbst täte.« 8 Und er stellt fest: »Die Menschen werden zu Patienten gemacht, ohne krank zu sein.« 9
    Krankheit gilt als etwas Ähnliches wie höhere Gewalt und damit als Entschuldigungsgrund. So schließt sich auch der französische Soziologe Alain Ehrenberg der Kritik an, dass »man in unserer Wohlstandsgesellschaft von einem Medikament für Kranke zu einem für gesunde Menschen, die Schwierigkeiten haben, übergeht, dann weiter zu Medikamenten, die Leute mit normaler Befindlichkeit das Leben erleichtern sollen«. 10 Oder ihre Leistungsfähigkeit bzw. Belastbarkeit steigern – Doping also.
    Allerdings stellt Ehrenberg auch fest, es wäre in einer ge- sundheitspolitischen Konzeption, in der man »Patienten ermutigt, sich für ihre psychischen Konflikte zu interessieren«, eine gute Neuigkeit, wenn es ein ungefährliches Medikament zur Verbesserung ihres psychischen Befindens gäbe: »Niemand fragte sich, ob man es mit echten Krankheiten zu tun hatte. Im Gegenteil, die Medikamente lieferten die Legitimation dazu, psychisch krank zu sein.« Und er schließt daraus: »Dies war einer der Faktoren, der dazu führte, der Psyche Einlass in die Gesellschaft zu verschaffen.« 11
    Man sollte also unterscheiden: Wo hat jemand Kraft verloren und wobei – und wo will jemand mehr Kraft aufbauen als die »Konkurrenz«? Solch eine Suche oder gar Sucht nach Überlegenheit und folglich Überheblichkeit verbraucht ebenfalls Lebenskraft, die besser im Wohlbefinden der Selbstakzeptanz gepflegt werden könnte. So bestätigt auch Ehrenberg, dass die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher