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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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und so können wiederum neue Krankheitskategorien entdeckt werden. 15 Beispielsweise Burn-out.
    Aus meiner Sicht wird mit medizinischen oder psychologischen Diagnosen nur das als »Leiden« Bezeichnete individualisiert. Man registriert nur die Reaktion der betroffenen Person, eventuell noch auslösende Momente – und konzentriert sich dann je nach verfügbarer Methodik auf die Behandlung des »greifbaren« bzw. »ansprechbaren« Menschen. Je öfter man »Bedarf« nach der eigenen Wirksamkeit ortet, desto mehr sichert man damit auch den eigenen Arbeitsplatz.
    Nach meiner jahrzehntelangen Erfahrung als Supervisorin und Coach von Teams und Führungskräften wäre es viel zielführender, statt Arbeitsplätze für Psycholog/innen oder Psychotherapeut/innen zu kreieren, einen systemisch-soziologischen Blickwinkel anzulegen: Welche Personen bzw. Gremien mit Macht versuchen mit welchen Methoden aus Mitarbeitern – oder Partnerpersonen und Familienangehörigen – welche Kraftleistungen herauszupressen?
    Ich unterscheide dabei Leistung von Kraftleistung: Bei ersterer halten sich Mühe und Erfolg die Waage, bei letzterer gibt es nur Mühsal. Die Leistung besteht also in der Anstrengung, aber Erfolgserlebnis gibt es keines – der Erfolg heißt Kraftverlust, und wer mag den schon leiden?
    »Leiden« ist nicht gleich Krankheit. Das Wort bedeutet als Zeitwort nur eine bestimmte Stimmung, denken wir bloß an Sätze wie »Ich mag dich gut leiden«, als Hauptwort hingegen eine Zuschreibung (die aber nicht stimmen muss). Ähnliche Zuschreibungen lauten »Belastbarkeit« oder aber »Versagen« (übrigens ein Wort mit bedeutsamem Doppelsinn!). Immer besteht als Vorgabe ein Idealbild, wie jemand – immer! – zu sein hätte. Immer gleich zu sein bedeutet aber tot sein – alles, was lebt, zeichnet sich durch Wellenbewegungen, durch Aufs und Abs aus, und nur im Idealfall sind diese gleichmäßig abwechselnd.
    Erschöpfung bedeutet, wie das Wort schon ausweist, dass jemand seine Ressourcen ausgeschöpft hat und daher Zeit, nicht nur zur Regeneration, sondern meistens zu völliger Neuorganisation benötigt. Das sogenannte Burn-out zeigt sich als Vorstadium.
    Burn-out ist ein gesundes Signal auf ungesunde Lebenssituationen.
    Ich definiere daher Burn-out nicht als Krankheit, sondern als
eine
mögliche
gesunde
Reaktion auf ungesunde – gesundheitsschädliche – Lebenssituationen. Es gibt aber auch andere Reaktionsmöglichkeiten.
    Wenn die Stammhirnreaktionen Kämpfen und Flüchten in Situationen, in denen die Gesundheit gefährdet ist, nicht möglich erscheinen, ohne die Zugehörigkeit zur Peergroup zu verlieren, bleibt nur Totstellen. Sich für die analogen Großhirnreaktionen Verhandeln, Distanzieren und Abwarten zu entscheiden, erfordert salutogenes strategisches Denken, und dieses wieder braucht Modelle.
    Burn-out ist ein
gesundes Signal auf ungesunde
Lebenssituationen.
    Salutogenese
ist eine Wortschöpfung des amerikanischisraelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994), der als Erster weg vom Krankheitsparadigma hin zum Gesundheits paradgima die Frage stellte: Was unterscheidet die Menschen, die unter gleich gefährdenden Bedingungen gesund bleiben, in ihrem Verhalten von denjenigen, die krank werden?
    Ich sehe die vielfach zu beobachtende Regression – das Zurückfallen in frühere Entwicklungsstadien – auf erprobte Verhaltensweisen aus der Kindheit durchaus als gesundheitsfördernd. Wen beispielsweise Fieber plagt, der tut gut daran, sich ins Bett zurückzuziehen und auszuschwitzen und nicht als Held oder Heldin der Arbeit seine Kollegenschaft anzustecken, Fehler zu machen und die Atmosphäre zu verschlechtern. Für solche Fälle von Leistungsabfall sind Regelungen für den Akutfall vorgesehen, Kontrolle durch die jeweiligen Krankenversicherungsträger inbegriffen.
    Zur Erholung von akuten Stimmungsbeeinträchtigungen oder Energieverlust, welche Ursache sie auch haben mögen, gibt es kein Regelwerk, man ist auf Verständnis und Wohlwollen von Vorgesetzten und Mitarbeitenden angewiesen. In vielen Berufen kann man sich nicht einmal Urlaub nehmen, wenn man ihn braucht – denn: »Wo kämen wir denn da hin, wenn das alle täten?!« (Meine Antwort: Zur Notwendigkeit eines offenen innerbetrieblichen Dialogs, wie ihn Martin Buber 16 und David Bohm 17 vorgeschlagen haben.)
    Das Grundproblem ergibt sich daraus, dass infolge der Dominanz des Krankheitsparadigmas nur die Reaktion – das Sich-subjektiv-schlecht-Fühlen –
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