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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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»Lust nach Rivalität und Kampf« – deren Motive, ergänze ich, in früher Kindheit und damaligen Erziehungszwängen zu finden sind – und die »Angst, mit ihr konfrontiert zu werden« 12 , zu Energieverlust führen.
    »Die Menschen
werden zu Patienten gemacht,
ohne krank zu sein.«
    Je mehr Selbsthilferatgeber à la Louise Hay Verbreitung fanden, desto mehr nahmen sich Hobbybesserwisser das Recht heraus, mit psychologisierenden Laiendiagnosen nach dem Motto »Selber schuld!« Mitleid für Krankheit zu verweigern – zumindest für solche Erkrankungen, vor denen sie sich selbst gefeit hielten bzw. ihre Angst davor abwehrten. Ein Erfolgsmensch wird wohl selbstverständlich Erfolgsrezepte besitzen, wird unterstellt, und in Buchform veröffentlicht, werden sie als tägliche Routineübung verstanden und kopiert – ohne all die Details nachzufragen, welche Not erfinderisch gemacht hat.
    »Die Risiken einer Routine-Diagnose werden noch weniger gefürchtet als die Risiken einer Routine-Behandlung, obgleich die durch die medizinische Klassifikation zugefügten sozialen, physischen und psychologischen Schäden nicht minder eindeutig bewiesen sind«, warnt Ivan Illich. »Die vom Arzt und seinen Helfern erstellten Diagnosen können die temporäre oder permanente Rolle des Patienten definieren. In jedem Fall fügen sie dem biophysikalischen Zustand einen
sozialen Status
dazu, der sich auf ein vorgeblich autoritatives Urteil stützt. (Hervorhebung R.A.P.) Wenn der Veterinär die Krankheit einer Kuh diagnostiziert, beeinflusst dies mitnichten das Verhalten der Patientin. Wenn der Arzt einen Menschen diagnostiziert, tut es dies wohl«, und Illich verdeutlicht: »Wenn der Arzt als Heiler fungiert, überträgt er dem als krank anerkannten Individuum gewisse Rechten, Pflichten und
Entschuldigungen
, die eine bedingte, zeitweilige Legitimität haben und erlöschen, sobald der Patient geheilt ist; die meisten Krankheiten hinterlassen auf dem Ansehen des Patienten keinen Makel abweichenden oder ungebührlichen Verhaltens. Niemand kümmert sich um den Ex-Allergiker oder Ex-Blinddarmpatienten, genau wie niemand sein Leben lang als Ex-Verkehrssünder herumläuft.« 13 (Hervorhebung R.A.P.) In anderen Fällen kann die ärztliche Diagnose jedoch Patienten und sogar deren Kinder ein Leben lang diffamieren: »Indem er die Identität eines Menschen mit einem irreversiblen Makel belegt, brandmarkt er ihn für immer mit einem permanenten Stigma. Der objektive Zustand ist vielleicht längst beseitigt, das iatrogene (d. h. durch ärztliche Einwirkung verursachte, Anmerkung R.A.P.), Etikett bleibt haften. Ehemalige psychiatrische Patienten, Männer nach dem ersten Herzinfarkt, ehemalige Alkoholiker, Leute mit Sichelzellen-Anämie und (bis vor Kurzem) ehemalige Tuberkulöse werden – wie entlassene Sträflinge – für den Rest ihres Lebens zu Außenseitern gemacht«, dazu reicht bereits die Verdachtsäußerung. »Das medizinische Etikett bewahrt den Patienten vielleicht vor Bestrafung, nur um ihn endloser Umerziehung, Therapie und Diskriminierung auszusetzen, die zu seinem, von den Experten ihm zudiktierten Wohl über ihn verhängt werden.« 14 Und Illich formuliert drei Formen von Menschen-Etikettierung:
    ~ jene, bei denen Heilung versucht werden konnte;
    ~ jene, die nicht mehr herzustellen waren – er nennt Leprakranke, Krüppel, wunderliche Käuze und Sterbende,
    ~ und als dritte, neue Gruppe die der »medikalisierten Prävention«, welche »den Arzt zum offiziell bestallten Magier, dessen Prophezeiungen selbst jene treffen, denen die medizinischen Zaubertränke nichts anhaben konnten«, macht.
    Wenn man nun im Sinne Illichs der Ärzteschaft das Heer der Psycholog/innen, aber auch Psychotherapeut/innen zugesellt, wird verständlich, was Illich – langjähriger Rektor der Universität Puerto Rico und Seelsorger in New Yorker Slums – stört: »Im letzten Jahrzehnt wurde die Technik der automatischen Multiphasen-Gesundheitstests praktikabel und allgemein als Rolltreppe des Kleinen Mannes in die Welt der Mayo-Kliniken und Diagnosezentren begrüßt.« Statt »begrüßt« könnte man auch das Wort »verkauft« einsetzen. Er schreibt: »Dieses Fließbandverfahren komplexer chemischer und medizinischer Untersuchungen kann durch paraprofessionelle Techniker bei überraschend geringen Kosten durchgeführt werden«, denn »angeblich bietet das Abermillionen Menschen eine differenziertere Feststellung verborgener therapeutischer Bedürfnisse … «;
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