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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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»Erzählform«: »Sie ist eine Charakterskizze in groben Zügen – Szasz 29 und Goffman 30 würden sie vielleicht lieber einen Rufmord (
character assassination
) nennen –, geschrieben in der Sprache des klinischen Spezialisten und dazu bestimmt, von anderen klinischen Spezialisten (keinesfalls aber vom Patienten) gelesen zu werden.« Das erinnert mich daran, dass mir in einem Kommunikationsseminar die teilnehmenden Pflegepersonen eines Rehabilitationszentrums für Unfallgeschädigte klagten, ein Patient hätte Einsicht in seine Pflegedokumentation verlangt und dabei den Satz entdeckt: »Patient ist störrisch wie ein Esel« … Hillman schreibt weiter über die Diagnose: »Sie sagt nicht aus, was jemand hat oder was jemand ist. Sie beschreibt sein Zustandsbild, beschreibt, wie sich sein Selbst dem Diagnostiker dargestellt hat. Die Diagnose über einen Menschen zu stellen heißt, aus ihm eine ›abnormale Geschichte‹ zu machen.« Diagnosen beanspruchten in ihrem »Historizismus«, für absolut faktisch genommen zu werden. »Diagnosen sind somit in hohem Maße kreative Schreib-Akte. Sie sind von ungeheurer Wirkung und Tragweite – wie alle Fiktionen in der Phantasie und Vorstellung als Tatsachen maskiert werden. Das Selbstverständnis, das dem ›klinischen Denken‹ zugrunde liegt, ist vom Glauben an die Faktizität der gefundenen Erkenntnisse geprägt.« 31 Und er weiß auch von der oft destruktiven Wirkung von Krankheitsdefinitionen: »Dass die heilsame Wirkung sich oft genug nicht einstellt, dass die Krankengeschichte Entwürdigung und Diagnose anstatt Loslösung und Würde hervorbringt, beweist nur wieder, welche Macht Geschichten über uns haben, wie sie bestimmen können, wer wir sind.« 32
    Im Gegensatz zu den gewohnten Diagnosen zeichnet sich der als Burn-out benannte Zustand durch besondere Reizbarkeit aus: Man ist noch arbeitsfähig, auch arbeitswillig – im Gegensatz zum Zustand des »Überdrusses«, neuerdings mit der Wortneuschöpfung »Bore-out« 33 benannt –, aber man reagiert übertrieben aggressiv auf jede neue Arbeitsherausforderung oder Störung der Arbeitsplanung. Früher sprach man von »Nervenzusammenbruch«, wenn jemand kreischte: »Lasst mich endlich in Ruhe« – in Ruhe arbeiten beispielsweise. Konkret bedeutet dies: Alle noch verfügbare Kraft wird auf ein einziges Ziel fokussiert, jede Abweichung von diesem »Tunnelblick« – und damit auch jede Ablenkung – wird als Gefährdung wahrgenommen, nämlich wirklich wahr-genommen: Man spürt, dass man sich ganz knapp am Zusammenbruch befindet, dass daher Fehler zunehmen können bzw. werden, und man ist unfähig und unwillig, die Eigendynamik dieses Sogs in den absoluten Kraftverlust zu unterbrechen (was einem meist die besorgten Nächsten anraten). Man bleibt als »standhafter Zinnsoldat« am Posten und verwirklicht damit das, was ich das militärische Erziehungsmodell 34 nenne.
    »Ein Zustand der Reizbarkeit ist Voraussetzung für die ›patriotische‹ Unnachgiebigkeit und Unduldsamkeit, die zu großen, unkontrollierbaren Konflikten mit rechtswidrigen Übergriffen, mit Körperverletzung und Totschlag führen«, schreibt der russisch-amerikanische Psychoanalytiker Immanuel Velikovsky, wenn er dafür plädiert, statt nur politischer und wirtschaftlicher Faktoren mehr psychologische und biologische Faktoren als Auslöser von Zerstörungs- und Selbstvernichtungsphänomenen zu beachten. 35
    Möglicherweise befanden sich diejenigen Staatsführer, die sich zu Kriegserklärungen entschieden, immer in der psychischen Ausnahmesituation, vom Entscheidungsdruck und den Empfehlungen ihrer Ratgeberschaft gestresst, bereit, ihre menschliche Hilflosigkeit mittels narzisstischer Größenphantasien zu kompensieren. Und genau dieser Allmachtswahn beflügelt diejenigen, die – aktiv wie passiv – glauben, »das geht schon noch« – nämlich irgendein Vorhaben fertig zu machen.
    Fertig machen sie aber nur die übermäßig kooperationsbereiten, daher unkritischen, oder auf Folgsamkeit trainierten Menschen, die wider besseres Spüren (meist aber nicht Wissen) auf Widerspruch und Widerstand verzichten.
    Im militärischen Erziehungsmodell wird schnelle Befehlsbefolgung eingeübt. Wer nicht sofort auf Zuruf reagiert, wird üblicherweise beschimpft und gedemütigt, um die verbotene Widerstandskraft als Aggression in die »richtigen« Bahnen, nämlich Hass auf sogenannte Feinde, zu lenken.
    Zum Feind kann dabei jede Person werden, die im Wege steht, vor
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