Der erschoepfte Mensch
die einen Zeitraum von anderthalb Stunden umfassen. »Diese elementaren Zyklen, die sich auf Ruhe und Aktivität beziehen, beeinflussen zahlreiche wichtige psychische und körperliche Systeme wie geistige Wachheit, Stimmung, Kreativität, Energie, Appetit, körperliche Leistungsfähigkeit, Erinnerungsvermögen und sexuelle Erregung. In unseren Organen wird sozusagen eine ganze ultradiane Symphonie aufgeführt, bei der unsere Drüsen, Muskeln, das Blut, die Hormone und das Immunsystem bis zu den einzelnen Zellen und Genen eine Rolle spielen. Unser ganzes Wesen steht an jedem Tag unseres Lebens über ein Dutzend Mal unter dem Einfluss dieser 90- bis 120-minütigen Rhythmen.« 37 In der ersten Stunde dieses Rhythmus, so der Experte, »schwingen« wir uns auf einer »Welle« erhöhter körperlicher und geistiger Energie und Wachheit in der von ihm sogenannten »ultradianen Periode der Spitzenleistungen« nach oben, gleiten in den darauf folgenden fünfzehn bis zwanzig Minuten in ein Leistungstief mit Ruhebedürfnis; dies bezeichnet Rossi die »ultradiane Heilreaktion«. Diese wird aber meist aus Pflichtgefühl oder auch nur Ablenkung durch scheinbar attraktivere Alternativbeschäftigungen nicht wahrgenommen (im Doppelsinn des Wortes). »Wenn wir dieses Bedürfnis Tage, Monate oder sogar über Jahre hinweg ständig ignorieren«, mahnt der Psychobiologe, »unterbrechen wir die natürlichen ultradianen Rhythmen der Regeneration des Körpers und der Seele. Das führt in vielen Systemen des Körpers und der Seele zu Erschöpfung, Stress und psychosomatischen Störungen. Körperlich kann sich das in Form von Bluthochdruck, Magengeschwüren, einer allgemeinen Anfälligkeit für Krankheiten sowie in Form von Alltagsbeschwerden wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und anderen Muskelschmerzen ausdrücken. Seelisch können Depressionen oder ein Gefühl der Unfähigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Stimmungsschwankungen und Probleme in der Liebe, im Beruf und beim Spiel entstehen. Das Ganze bezeichnen wir als das ultradiane Stresssyndrom.« 38
Die Wirkung zielt auf
die hungrige Seele, nicht auf
den erschöpften Körper.
Ich habe die Worte »schwingen« und »Welle« unter Anführungszeichen gesetzt, weil ich es als hilfreich einschätze, wenn man seine Stimmungen mit einer Wellenlinie vergleicht, in der man sich mal mehr, mal weniger oben – in Hochstimmung – oder unten – »am Boden«, wie der Volksmund so treffend formuliert – befindet.
Worte sind ja nur sprachliche Symbolisierungen für die Erscheinungsformen des Lebens im Sinne von: »Die Landkarte ist nicht die Landschaft.« 39 Ich möchte das Wort »Stimmungsschwankung« vermeiden, weil es meist einen abschätzigen Beigeschmack beinhaltet, wie wenn es erstrebenswert wäre, keinerlei Veränderungen in der seelischen Befindlichkeit aufzuweisen. Tatsächlich reagiert aber ein körperlich-seelisch-geistig gesunder Mensch auf die – äußerlichen wie innerlichen – Beeinflussungen mit genau diesem Instrumentarium – so wie sich die Töne verändern, je nachdem, ob ein Musiker mehr oder weniger Kraft – Atem oder Muskelkraft, tatsächlich aber »Sinn« – seinem Musikinstrument einflößt oder aufdrückt, d.h. grob gesagt: »antut«.
Genauso zeigt uns unser leib-seelisch-geistiges »Schwingungsmuster«, was uns angetan wird – von anderen, von uns selbst, aber auch von Umweltbedingungen. Manches ist bzw. wäre leicht veränderbar, manches erfordert langfristige Strategien. Ich sage oft im therapeutischen Gespräch, wenn erschöpfte Menschen keine Möglichkeit sehen, aus der belastenden Situation auszusteigen: »Der Graf von Monte Christo hat sich auch 14 Jahre vorbereiten müssen, bis sich die Gelegenheit zur Flucht aus dem Chateau d’If ergeben hat!«
Es gibt einen süßen Psychiaterwitz, in dem sich zwei dieser Seelendoktoren auf der Straße treffen, und der eine sagt zum anderen: »Schauen Sie mich an, Kollege – wie geht es mir denn heute?« Manche Leute schauen ins Zeitungshoroskop, um zu erfahren, wie ihre aktuelle Befindlichkeit ist bzw. zu sein hat, und richten sich nach dieser Suggestion, statt in sich selbst hineinzuspüren, wie der eigene »Wetterbericht der Seele« 40 (eine andere »stehende« Redewendung von mir) augenblicklich ausfällt.
SEELENTOXIKOLOGIE
Da die meisten Menschen wenig achtsam mit sich selbst umgehen – eine Folge des traditionellen militärischen Erziehungsmodells, das auf Durchhalten um jeden Preis ausgerichtet ist –, merken sie
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