Der erschoepfte Mensch
nicht, wenn körperlich, aber auch seelisch oder geistig Pausen, vielleicht sogar eine länger andauernde Fastenperiode, angesagt sind – oder sie definieren diese als Zeichen von Schwäche und Versagen und verleugnen oder verstecken ihre natürlichen Bedürfnisse.
Unser aller Grundbedürfnis besteht darin, unseren Energiekreislauf aufrecht zu erhalten.
Mit dem Wort »Kreislauf« will ich die »Welle« des Stoffwechsels ansprechen. Der körperliche ist wohl allen bewusst: Wenn man sich länger als zwei Tage nicht »entleeren« kann, fühlt man sich »vergiftet« und ist es auch tatsächlich. Man muss die Abfallprodukte entsorgen – draußen wie drinnen: Wer schon ein Aquarium besaß, weiß, dass die Fische sterben, wenn nicht von Zeit zu Zeit das Wasser erneuert wird. Heute taucht das Müllproblem global auf, und nicht nur bei der Entsorgung von materiellen Giftstoffen, sondern auch im Rahmen der von mir so bezeichneten Seelentoxikologie.
Wenn kein seelischer Stoffwechsel bewerkstelligt wird, zeigt sich analog der körperlichen Hartleibigkeit seelische Hartherzigkeit: Verlust der Fühlfähigkeit und damit auch des Mitgefühls, stattdessen zunehmende Gewalt oder aber oft extrem übertriebene intellektuelle Selbstbemitleidung, eine Art Anklage an Gott und die Welt wegen Ungerechtigkeit und Herzlosigkeit. Die anderen sollen stellvertretend die Gefühle zeigen und spenden, die man selbst nicht zu fühlen wagt.
Unser aller Grundbedürfnis
besteht darin, unseren Energiekreislauf
aufrecht zu erhalten.
Mangelnder geistiger Stoffwechsel zeigt sich oft in Form von Zwangsgedanken, unerwünscht wiederkehrende geistige Bilder mitgemeint. Letztere will ich deutlich von Intrusionen – dem überfallsartigen Auftauchen von Erinnerungsbildern an makrotraumatische Erlebnisse – unterscheiden, auch wenn sie auf eine Mikrotraumatisierung hinweisen können. Zwangsgedanken, Zwangsbilder, Zwangstöne – »Ohrwürmer« – zeigen vorerst nur an, dass die auslösende Information zu besonderen Emotionen geführt hat; das können durchaus auch angenehme sein, und man kann sie pflegen und damit verstärken, oder verarbeiten und damit nutzbar machen oder aber entsorgen.
Es liegt an uns, ob wir seelisch-geistiges »Material« als bloße biographische Details der zyklischen Erneuerung anheim fallen lassen oder für immer wiederkehrende Aufmerksamkeitsrituale horten wollen.
SEELENSPIEGELUNGEN
Psyche: das ist nicht nur ein gängiges anderes Wort für Seele, sondern auch ein Möbelstück mit vielen Schubladen und oben drüber einem Spiegel. Der Name passt. Heute aus der Mode gekommen, stand sie früher üblicherweise irgendwo im Schlafzimmer und je nach Nutzung im Eck, wenn sie nur zur Aufbewahrung von Wäsche, bevorzugt Unterwäsche diente, an hervorragendem Platz hingegen, wenn sie der kosmetikbewussten Hausfrau als Schminkplatz nutzbar war.
Üblicherweise verhalf Schminke dazu, die Spuren nächtlicher Um-Triebe und deren Folgen, die sogenannten venerischen Krankheiten, zu verdecken oder sich für den Heiratsmarkt attraktiv zu machen. In dem Filmklassiker »Von Winde verweht« kneift sich Vivian Leigh als natürliche Südstaatenschönheit Scarlett O’Hara nur in die Backen, um rosig und damit gesund auszusehen. Das reicht. Heute quillt die Fernsehwerbung über von sogenannten Antiaging-Produkten. Welch ein Wort! Wie wenn man der Alterung entgehen könnte! In ihrem Eröffnungsvortrag zu dem Symposium »Stress und Alter« im Herbst 2005 sagte die österreichische Volksschauspielerin Elfriede Ott – gerade mal 80 Jahre alt geworden: »Es gibt kein Alter – es gibt nur ein Da-sein!« 41 Egal, wie alt wir sind – wir sind immer »alt« mit unterschiedlicher Zahl voran.
Wie alt wir aber aussehen, hängt weniger von unserem historischen Alter ab als von unserem biologischen, und das kann nach beiden Richtungen differieren – je nach den zu bewältigenden Stressportionen der jeweiligen Biografie.
Stress bedeutet im Englischen das Quantum derjenigen Belastung, die ein Material für seine durchschnittliche Lebensdauer aushalten sollte. In IKEA-Einrichtungshäusern sieht man oft Stampfmaschinen, die demonstrieren sollen, mit wie viel Stress man die Polstermöbel bei IKEA malträtieren kann, ohne dass sie kaputtgehen. Bei Menschen gibt es so etwas Ähnliches nur im Spitzensport, vor allem bei den Schifahrer/innen, die vordergründig den Triumph des Menschen über die Natur demonstrieren sollen – hintergründig aber Schnelligkeit
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