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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser
Autoren: Jo Nesb�
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Hasses an, auf die Harry schon gewartet hatte.
    »Ein Bulle?«
    »Ich dachte, wir hätten ein Abkommen, dass ihr auf der Plata am Bahnhofsvorplatz bleibt«, sagte Harry und blickte an ihr vorbei zum Sänger der Band.
    »Pah«, sagte die Frau, die sich direkt vor Harry aufgebaut hatte. »Du bist doch gar keiner von diesen Drogenbullen. Du bist doch der, der da im Fernsehen war, der diesen Typen abgeknallt «
    »Dezernat für Gewaltverbrechen.« Harry packte sie leicht am Arm. »Hör mal, das, was du brauchst, findest du auf der Plata. Zwing mich nicht, dich festzunehmen.«
    »Geht nicht.« Sie wand sich los.
    Harry bereute es sofort und nahm beide Hände in die Höhe. »Sag mir trotzdem, dass du hier jetzt nichts kaufen willst, damit ich gehen kann. Okay?«
    Sie legte den Kopf auf die Seite. Ihre dünnen, blutleeren Lippen strafften sich ein wenig. Als sähe sie in der ganzen Situation auch etwas Amüsantes. »Soll ich dir sagen, warum ich nicht runter zur Plata gehen kann?«
    Harry wartete.
    »Weil mein Junge da unten rumläuft.«
    Harry spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
    »Ich will nicht, dass er mich so sieht. Verstehst du das, Bulle?« Harry blickte in ihr trotziges Gesicht und suchte nach Worten.
    »Fröhliche Weihnachten«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu.
    Harry ließ die Zigarette in den braunen, pulverisierten Schnee fallen und ging. Er musste diesen Job endlich hinter sich bringen. Er sah die Menschen nicht an, die ihm entgegenkamen, und sie beachteten ihn auch nicht, sondern richteten ihre Blicke auf den vereisten Boden, als hätten sie ein schlechtes Gewissen; als schämten sie sich als Bürger der großzügigsten Sozialdemokratie der Welt. »Weil mein Junge da unten rumläuft.«
    Im Fredensborgvei blieb Harry unweit der Deichmann’schen Bibliothek vor der Hausnummer stehen, die auf seinem Briefumschlag notiert war. Er legte den Kopf in den Nacken. Die grauschwarze Fassade war frisch gestrichen. Der feuchte Traum eines jeden Sprayers. An einigen Fenstern hob sich Weihnachtsdekoration als dunkle Silhouette von diesem weichen, gelblichen Licht ab, das jeder unweigerlich mit einem sicheren warmen Zuhause in Verbindung bringt. Und vielleicht war das ja auch richtig, zwang sich Harry zu denken. Was ihm freilich nur mit Mühe gelang, denn man konnte nicht zwölf Jahre bei der Polizei sein, ohne von der Menschenverachtung angesteckt zu werden, die der Job mit sich brachte. Aber er wehrte sich, das musste man ihm lassen.
    Er fand den Namen auf den Klingelschildern, schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, um die passenden Worte zu finden. Es half nichts. Ihre Stimme stand ihm noch immer im Weg.
    »Ich will nicht, dass er mich so sieht «
    Harry gab auf. Gab es passende Worte für das Unmögliche?
    Er drückte mit dem Daumen auf den kalten Metallknopf, und irgendwo im Haus erklang eine Türglocke.
     
    *
     
    Kapitän Jon Karlsen nahm den Finger vom Klingelknopf, stellte die schwere Plastiktüte auf den Bürgersteig und blickte an der Fassade empor. Das Haus sah aus, als wäre es von leichter Artillerie beschossen worden. Der Putz war großflächig abgeblättert, und die Fenster einer ausgebrannten Wohnung im ersten Stock waren mit Bretternvernagelt. Zuerst war er pfeilgerade an Fredriksens blauem Haus vorbeigelaufen, denn irgendwie schien die Kälte alle Farben aus den Gebäuden gesaugt zu haben, so dass sich die Fassaden der Häuser in der Hausmansgate kaum mehr unterschieden. Erst als er das besetzte Haus bemerkte, auf dessen Wand »Westbanks« geschrieben stand, erkannte er, dass er zu weit gelaufen war. Ein Sprung im Glas der Haustür bildete ein V. Das Zeichen des Sieges.
    Jon schauderte in seiner Windjacke. Er war froh, dass die Uniform der Heilsarmee, die er darunter trug, aus dicker, reiner Wolle war. Als er nach Abschluss der Offiziersschule seine neue Uniform erhalten sollte, hatte ihm keine der handelsüblichen Größen der Armee gepasst, so dass man ihm Stoff gegeben und ihn zu einem Schneider geschickt hatte, der ihm Zigarettenqualm ins Gesicht geblasen und Jesus den Erlöser unaufgefordert verleugnet hatte. Trotzdem hatte dieser Mann gute Arbeit geleistet, und Jon dankte ihm von ganzem Herzen. Er war es nicht gewohnt, Kleider zu tragen, die ihm wirklich passten. Es hieß, das liege an seinem krummen Rücken. Wer ihn an diesem Nachmittag über die Hausmansgate kommen sah, dachte sicher, er gehe gebeugt, um sich vor dem eiskalten Dezemberwind zu schützen, der
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