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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser
Autoren: Jo Nesb�
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in weißen Wölkchen aus dem Mund quoll. Gekrümmte Rücken und verschlossene Wintergesichter. Harry fiel eine blasse Frau auf, die eine dünne, schwarze Lederjacke mit löchrigen Ärmeln trug. Sie stand an der Mauer neben dem Uhrmachergeschäft, trat von einem Bein aufs andere und hielt mit flackerndem Blick nach ihrem Dealer Ausschau. Ein Bettler saß im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken an einen Laternenpfahl gelehnt und den Kopf wie in Meditation zur Seite geneigt. Er hatte lange Haare und war unrasiert, trug aber gute, warme, durchaus moderne Kleider. Vor ihm stand ein brauner Pappbecher aus einem Café. Harry waren im letzten Jahr immer mehr Bettler aufgefallen, und irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie sich alle ähnlich sahen. Sogar die Pappbecher waren die gleichen, als gäbe es da einen geheimen Code. Vielleicht waren es Außerirdische, die im Stillen dabei waren, seine Stadt zu übernehmen, seine Straßen. Und wenn schon. Sollten sie doch!
    Harry betrat das Uhrmachergeschäft.
    »Können Sie die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen und reichte ihm eine Großvateruhr, die tatsächlich die Uhr seines Großvaters war. Harry hatte sie als Junge in Åndalsnes bekommen, bei der Beerdigung seiner Mutter. Ihm hatte das beinahe Angst gemacht, aber sein Großvater hatte ihn beruhigt und gesagt, dass Uhren dazu da seien, weitergegeben zu werden, und dass auch er das eines Tages tun sollte:
    »Ehe es zu spät ist. «
    Harry hatte die Uhr vollkommen vergessen, bis er im Herbst bei sich in der Sofies gate Besuch von Oleg bekommen hatte, der auf der Suche nach Harrys Gameboy in einer Schublade auf die silberne Uhr gestoßen war. Und Oleg, der neun Jahre alt war, Harry aberlängst beim Tetris-Spielen schlug – ihrer gemeinsamen Leidenschaft–, hatte das Duell, auf das er sich so gefreut hatte, vergessen und stattdessen an der Uhr herumgefingert, um sie wieder in Gang zu setzen.
    »Die ist kaputt«, sagte Harry.
    »Blödsinn«, antwortete Oleg. »Man kann alles reparieren.«
    Harry hoffte aus tiefstem Herzen, dass diese Behauptung stimmte, es gab aber Tage, an denen er es aufs Stärkste bezweifelte. Trotzdem fragte er sich kurz, ob er Oleg mit der Gruppe »Jokke & Valentinerne « bekannt machen sollte, die ein Album mit genau diesem Titel herausgebracht hatte: »Man kann alles reparieren«. Doch dann war ihm in den Sinn gekommen, dass Olegs Mutter, Rakel, sicher nicht begeistert wäre von der ganz besonderen Konstellation, dass nämlich ihr Exlover und Alkoholiker ihrem Sohn die Lieder eines verstorbenen Junkies vorspielte, der sein Alkoholikerdasein besang.
    »Kann man die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen. Wie zur Antwort wurde die Uhr von raschen, kundigen Händen geöffnet.
    »Das würde sich nicht lohnen.«
    »Sich lohnen?«
    »Gehen Sie zu einem Antiquitätenhändler. Da bekommen Sie bestimmt bessere Uhren, die auch noch laufen – und das für weniger Geld, als die Reparatur kosten würde.«
    »Versuchen Sie es trotzdem«, sagte Harry.
    »Gut«, erwiderte der junge Mann, der bereits begonnen hatte, das Innere der Uhr zu studieren. Eigentlich schien er ganz froh über Harrys Entscheidung zu sein. »Kommen Sie nächste Woche Mittwoch wieder.«
    Als Harry wieder auf die Straße trat, hörte er den dünnen Ton einer einfachen Gitarrensaite durch einen Verstärker. Er wurde höher, als der Gitarrist, ein Junge mit spärlichem Bartwuchs und Pulswärmern, an einem Wirbel herumdrehte. Jetzt begannen wieder die traditionellen Vorweihnachtskonzerte, bei denen bekannte Künstler zugunsten der Heilsarmee auf dem Egertorg auftraten. Die Menschen scharten sich bereits um die Band, die sich hinter dem schwarzen Kessel der Heilsarmee aufgestellt hatte, der mitten auf dem Platz an einem dreibeinigen Ständer hing.
    »Bist du das?«
    Harry drehte sich um. Es war die Frau mit dem Junkieblick. »Du bist es doch, oder? Kommst du für Snoopy? Ich brauch sofort einen Null-eins, ich hab «
    »Sorry«, unterbrach Harry sie. »Ich bin nicht der, den du meinst.«
    Sie sah ihn an, legte den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen, als wollte sie überprüfen, ob er sie anlog. »Doch, ich hab dich doch schon mal gesehen.«
    »Ich bin Polizist.«
    Sie hielt inne. Harry atmete ein. Ihre Reaktion kam allerdings mit einer gewissen Verzögerung, als müsste diese Nachricht erst ein paar Umwege nehmen, um verkohlte Nerven und zerschossene Synapsen zu meiden. Dann ging die matte Lampe des
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