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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser
Autoren: Jo Nesb�
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Vaters waren die stärksten der ganzen Stadt. Sein Vater war Eisenbieger. Ihn rief man zu den Baustellen, wenn die Maurer fertig waren. Dann legte er seine Hände um die Armierungseisen, die aus den Fundamenten herausragten, und bog sie mit einer raschen, aber genau eingeübten Bewegung gegeneinander, so dass sie sich miteinander verflochten. Er hatte seinem Vater bei der Arbeit zugesehen; es wirkte, als wringe er einen Lappen aus. Noch hatte niemand eine Maschine erfunden, die diese Arbeit besser erledigte.
    Er kniff seine Augen zu, als er seinen Vater vor Schmerzen und Verzweiflung schreien hörte:
    »Schaff den Jungen raus!«
    »Er hat darum gebeten «
    »Raus!«
    Die Stimme des Arztes: »Die Blutung ist gestillt, wir fangen jetzt an!«
    Jemand packte ihn unter den Armen und hob ihn hoch. Er versuchte sich zu wehren, aber er war zu klein, zu leicht. Und in diesem Moment nahm er den Geruch wahr. Verbranntes Fleisch und Blut.
    Das Letzte, was er hörte, war die Stimme des Arztes:
    »Säge.«
    Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und er sackte auf die Knie und setzte die Gebete seiner Mutter fort. Rette ihn. Verstümmle ihn, aber lass ihn leben. Gott hatte die Macht, so etwas zu tun. Wenn Er wollte.
    Er spürte, dass ihn jemand ansah, öffnete die Augen und war plötzlich wieder in der Metro. Ihm gegenüber saß eine Frau mit angespannten Kiefermuskeln und müdem, abwesendem Blick, der seinem auswich, als er sie musterte. Der Sekundenzeiger der Uhr bewegte sich ruckweise, während er sich noch einmal die Adresse ins Gedächtnis rief. Er überprüfte seinen Puls. Alles normal. Sein Kopf war leicht, aber nicht zu leicht. Er fror nicht, schwitzte nicht und spürte weder Furcht noch Freude, weder Unbehagen noch Behagen.Die Metro wurde langsamer. Charles de Gaulle – Étoile. Er warf einen letzten Blick auf die Frau. Sie hatte ihn genau angesehen, aber sie würde ihn nicht wiedererkennen – selbst dann nicht, wenn sie sich noch am selben Abend ein zweites Mal begegneten.
    Er stand auf und trat an die Tür. Die Bremsen jammerten leise. WC-Steine und Urin. Freiheit – sie konnte man sich genauso wenig vorstellen wie einen Geruch. Die Türen glitten auf.
     
    *
     
    Harry trat auf den Bahnsteig, blieb stehen und atmete die warme U-Bahnluft ein, während er einen Blick auf den Zettel mit der Adresse warf. Er hörte, wie sich die Türen schlossen, und spürte einen Luftzug im Rücken, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Er steuerte auf den Ausgang zu. Das Werbeplakat über der Rolltreppe verkündete ihm, dass es Wege gab, Erkältungen zu vermeiden. Wie zur Antwort hustete er, dachte »ihr könnt mich mal«, fuhr mit der Hand in die tiefe Tasche seines Wollmantels und stieß unter dem Flachmann und dem Döschen mit den Halstabletten auf die Schachtel Camel.
    Die Zigarette wippte zwischen seinen Lippen, als er durch die Glastür trat. Er ließ die raue, unnatürliche Wärme von Oslos Untergrund hinter sich und trat in die alles andere als unnatürliche Kälte und Dezemberdunkelheit der Stadt hinaus. Harry zog unwillkürlich die Schultern hoch. Egertorg. Der kleine, offene Platz war eine Kreuzung von Fußgängerzonen im Herzen von Oslo, sofern die Stadt in dieser Jahreszeit denn überhaupt so etwas wie ein Herz hatte. Die Geschäfte hatten am vorletzten Wochenende vor Weihnachten auch sonntags geöffnet. Der Platz wimmelte von Menschen, die im gelben Licht hin und her rannten, das durch die Fenster der bescheidenen, dreistöckigen Geschäftshäuser fiel. Harry sah die Taschen mit den eingepackten Geschenken und rief sich ins Gedächtnis, dass er noch etwas für Bjarne Møller kaufen musste, der am kommenden Tag seinen Abschied vom Polizeipräsidium feiern sollte. Harrys Chef, der in all den Jahren bei der Polizei auch so etwas wie sein oberster Schutzheiliger gewesen war, hatte sein Vorhaben, es langsamer angehen zu lassen, tatsächlich in die Tat umgesetzt.Ab kommender Woche wollte er als sogenannter Senior-Sonderermittler für die Polizeikammer in Bergen arbeiten, was in Wahrheit nichts anderes bedeutete, als dass Bjarne Møller von nun an bis zu seiner Pensionierung tun und lassen konnte, was er wollte. An sich ja ganz schön, aber ausgerechnet Bergen? Regen und nasse Felsen. Møller kam nicht einmal von dort. Harry hatte Bjarne Møller immer gemocht – wenn er ihn auch nicht immer verstanden hatte.
    Ein Mann im Ganzkörperdaunenanzug wankte wie ein Astronaut vorbei, er grinste mit roten Backen, während ihm der Atem
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