Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser
Autoren: Jo Nesb�
Vom Netzwerk:
Lippen. Denn sie war vierzehn Jahre alt und überzeugt davon, dass sie die Sterne durch das Dach hindurch sehen konnte, wenn sie die Augen zukniff und sich richtig konzentrierte. Gott hatte die Macht, Großes zu vollbringen. Wenn Er nur wollte.

 
    KAPITEL 2
    Sonntag, 13. Dezember 2003. Hausbesuch
     
     
    E r betrachtete sein Spiegelbild im Zugfenster. Versuchte zu erkennen, was es eigentlich war, woraus das Geheimnis bestand. Aber er konnte nichts Außergewöhnliches über dem roten Halstuch erkennen, nur ein ausdrucksloses Gesicht mit Augen und Haaren, die im Tunnel zwischen Courcelles und Ternes ebenso schwarz erschienen wie die unendliche Nacht der Metro. Le Monde lag auf seinem Schoß und meldete Schnee, doch die Pariser Straßen über ihm lagen noch immer kalt und nackt unter der dichten, tief hängenden Wolkendecke. Seine Nasenlöcher weiteten sich und sogen die schwachen, aber unverkennbaren Gerüche von nassem Zement ein, menschlichem Schweiß, heißem Metall, Eau de Cologne, Tabak, nasser Wolle und Galle, einem Dunst, den man aus den Zugsitzen nie wieder herauswaschen oder -lüften konnte.
    Der Luftdruck eines entgegenkommenden Zuges ließ die Scheiben vibrieren, und das Dunkel wurde vorübergehend von den flackernd vorbeiziehenden blassen Lichtvierecken verdrängt. Er zog den Ärmel seines Mantels hoch und warf einen Blick auf die Uhr, eine Seiko SQ 50, die er als Anzahlung von einem Kunden erhalten hatte. Das Glas hatte bereits Kratzer, so dass er nicht sicher sagen konnte, ob die Uhr echt war. Viertel nach sieben. Es war Sonntagabend und der Waggon nur halb voll. Er sah sich um. Die Menschen schliefen in der Metro, immer schliefen sie. Besonders an Werktagen. Schalteten ab, schlossen die Augen und ließen die tägliche Reise zu einem traumlosen Zwischenraum im Nichts werden, in dem die roten oder blauen Linien auf dem Metro-Plan Arbeit und Freiheit verbanden wie stumme Bindestriche. Er hatte einmal von einem Mann gelesen, der den ganzen Tag über mit geschlossenenAugen in der Metro gesessen hatte und hin- und hergefahren war. Erst am Abend, als man den Waggon reinigen wollte, hatte man festgestellt, dass er tot war. Vielleicht war er ja auch extra in diese Katakomben hinabgestiegen, um in dem blassgelben Sarg ungestört einen blauen Trennungsstrich zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu ziehen.
    Er selbst war im Begriff, einen ganz anderen Strich zu ziehen. Eine Entscheidung fürs Leben zu treffen. Es standen noch zwei Aufträge aus. Der Job heute Abend und dann der in Oslo. Das sollte sein letzter sein. Danach wollte er für immer aus den Katakomben emporsteigen.
    Ein schriller Signalton ertönte, bevor sich die Türen an der Station Ternes schlossen. Die Metro beschleunigte wieder.
    Er kniff die Augen zu und beschwor diesen anderen Geruch herauf. Den Duft von WC-Steinen und warmem Urin. Das Aroma der Freiheit. Aber vielleicht stimmte es, was seine Mutter, die Lehrerin, einmal gesagt hatte. Dass nämlich das menschliche Gehirn in der Lage war, sich zwar an die kleinsten Details zu erinnern, die man gehört oder gesehen hatte, nicht aber an die simpelsten Gerüche.
    Geruch. Die Bilder begannen vor seinem geistigen Auge vorbeizuziehen. Er war fünfzehn Jahre alt gewesen, hatte auf dem Krankenhausflur in Vukovar gesessen und gehört, wie seine Mutter wieder und wieder den Apostel Thomas angefleht hatte, den Schutzheiligen der Bauarbeiter. Gott möge ihren Mann verschonen. Er hatte das Grummeln der serbischen Artillerie gehört, die vom Fluss aus die Stadt beschoss, und die Schreie all jener, die im Kreißsaal operiert wurden. Dort kamen schon lange keine Kinder mehr zur Welt, seit dem Beginn der Belagerung war keine Frau mehr niedergekommen. Er hatte als Laufbursche im Krankenhaus gearbeitet und gelernt, die Geräusche der Artillerie und die Schreie auszublenden. Nicht aber die Gerüche. Insbesondere den einen nicht. Bei Amputationen mussten die Chirurgen zuerst das Fleisch bis auf den Knochen abtrennen und dann die Arterien mit einer Art Lötkolben verschließen, damit die Patienten nicht verbluteten. Dieser Gestank von verbranntem Fleisch und Blut war mit keinem anderen zu vergleichen.
    Ein Arzt trat auf den Flur und rief seine Mutter und ihn ins Zimmer.Er wagte es nicht, seinen Vater anzusehen, sondern starrte nur auf seine große, braune Faust, die die Matratze gepackt hielt und sie anscheinend in Stücke reißen wollte. Und das hätte sie ohne Zweifel auch geschafft, denn die Hände seines
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher