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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen
Autoren: Richard Dawkins
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andere vor ihm legt er besonderen Wert auf die Vorstellung, dass Gedanken nicht an bestimmten Orten im Gehirn angesiedelt sind, sondern wechselnde Aktivitätsmuster auf seiner Oberfläche darstellen, wobei einzelne Einheiten benachbarte Einheiten «anwerben» und zu Populationen vereinen, die zu einem Gedanken werden und in Darwinscher Manier mit konkurrierenden Populationen, die andere Gedanken repräsentieren, in Wettbewerb treten. Diese Aktivitätsmuster sehen wir nicht, aber vermutlich wäre das der Fall, wenn aktive Nervenzellen aufleuchten würden. Dann sähe die Hirnrinde möglicherweise aus wie die Körperoberfläche eines Tintenfisches. Denkt ein Tintenfisch mit der Haut? Wenn sich sein Farbmuster plötzlich verändert, halten wir das für den Ausdruck eines Stimmungswandels, für ein Signal an andere Tintenfische. Der Farbwechsel zeigt an, dass das Tier beispielsweise nicht mehr in aggressiver, sondern in ängstlicher Stimmung ist. Natürlich nehmen wir an, dass sich der Stimmungswandel im Gehirn abspielt und den Farbwechsel hervorruft – als äußeren Ausdruck innerer Gedanken, als Mittel der Kommunikation. Ich füge dem die Phantasievorstellung hinzu, dass die Gedanken des Tintenfisches vielleicht nirgendwo anders angesiedelt sind als in der Haut. Wenn Tintenfische mit der Haut denken, sind sie noch viel mehr «Marsbewohner», als mein Kollege glaubte. Selbst wenn meine Spekulation zu weit hergeholt ist (und das ist sie sicher), ist das Schauspiel der wellenförmigen Farbveränderung so fremdartig, dass es uns aus unserer Betäubung des Vertrauten herausreißt.
    Tintenfische sind nicht die einzigen «Marsbewohner» vor unserer Haustür. Man denke nur an die bizarren Gesichter der Tiefseefische; oder an die Staubmilben, die noch Furcht erregender aussähen, wenn sie nicht so winzig wären; oder an die mindestens ebenso schrecklichen Riesenhaie; oder an die Chamäleons mit ihrer katapultartig herausschießenden Zunge, ihren wie Geschütztürme drehbaren Augen und dem automatenhaft langsamen Gang. Eine ebenso «seltsam fremde Welt» tut sich auf, wenn wir in unser eigenes Inneres blicken und die Zellen betrachten, die unseren Körper ausmachen. Eine Zelle ist nicht nur ein Beutel voller Flüssigkeit. Sie ist voll gepackt mit festen Strukturen und enthält ein Labyrinth aus vielfach gefalteten Membranen. Der menschliche Organismus besteht aus etwa 100 Millionen Millionen von ihnen, und die Gesamtfläche der Membranstrukturen in einem einzigen Menschen liegt bei fast einem Quadratkilometer. Das ist die Größe eines ansehnlichen Landwirtschaftsbetriebes.
    Was tun alle diese Membranen? Sie wirken wie Füllmaterial der Zelle, aber das ist nicht ihre einzige Aufgabe. Ein großer Teil der hektargroßen Flächen beherbergt chemische Fertigungsstraßen: Hier bewegen sich Förderbänder, und Hunderte von Arbeitsschritten sind kaskadenförmig angeordnet, sodass jeder davon in einer genau vorgegebenen Weise zum nächsten führt; angetrieben wird das Ganze von schnell rotierenden chemischen Zahnrädern. Der Citratzyklus, jenes Zahnrad mit neun Zähnen, das im Wesentlichen für die Energieproduktion verantwortlich ist, läuft mit über 100 Umdrehungen in der Sekunde, und es kommt in jeder Zelle mehrere tausendmal vor. Historisch besonders bedeutsame chemische Zahnräder liegen in den Mitochondrien, winzigen Körperchen, die sich in unseren Zellen nach Art der Bakterien vermehren. Wie wir noch sehen werden, sind die Mitochondrien und andere lebensnotwendige Strukturen in den Zellen – nach einer mittlerweile allgemein anerkannten Theorie – den Bakterien nicht nur ähnlich, sondern sie stammen sogar unmittelbar von Bakterien ab, die vor einer Milliarde Jahren ihre Freiheit aufgegeben haben. Jeder von uns ist eine Großstadt aus Zellen, jede Zelle eine Kleinstadt aus Bakterien, jeder Mensch eine gewaltige Bakterienmetropole. Schwindet da nicht das dumpfe Gefühl der Betäubung?
    Das Mikroskop hilft uns, im Geist an Zellmembranen entlangzugleiten, und das Teleskop entführt uns in ferne Galaxien; ein dritter Weg, die Betäubung abzuschütteln, besteht darin, dass wir in unserer Phantasie durch die Erdzeitalter rückwärts reisen. Dabei macht uns das unvorstellbare Alter der Fossilien schwer zu schaffen. Wir heben einen Trilobiten auf, und das Lexikon sagt uns, er sei 500 Millionen Jahre alt. Aber leider können wir einen solchen Zeitraum absolut nicht begreifen, und jeder Versuch ist vergebliche Liebesmüh’. Unser
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