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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen
Autoren: Richard Dawkins
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und nutzten, wissen wir nicht. Jedenfalls besaßen sie das Feuer schon vor etwa einer halben Million Jahren, und um in unserem Vergleich den Band mit der zugehörigen Aufzeichnung zu finden, müssten wir ein wenig höher klettern als auf die Freiheitsstatue. Eine wahrlich Schwindel erregende Höhe, insbesondere wenn man bedenkt, dass Prometheus, der sagenhafte Überbringer des Feuers, in dem Bücherstapel knapp unterhalb des Knies zum ersten Mal erwähnt wird. Um etwas über Lucy und unsere afrikanischen Vorfahren, die Australopithecinen, zu lesen, müssten wir über das höchste Gebäude von Chicago hinaussteigen. Und die Biographie unseres letzten gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen stünde in einem Buch, das noch einmal doppelt so hoch liegt.
    Aber damit stehen wir auf unserer Reise zu den Trilobiten noch ganz am Anfang. Wie hoch müsste der Bücherstapel sein, damit er auch die Seite enthält, auf der Leben und Tod dieses Trilobiten in seinem seichten, kambrischen Meer gebührend gefeiert werden? Die Antwort: ungefähr 56 Kilometer. Uns solche Höhen vorzustellen, sind wir nicht gewohnt. Der Gipfel des Mount Everest liegt noch nicht einmal neun Kilometer über dem Meeresspiegel. Eine gewisse Vorstellung vom Alter des Trilobiten können wir uns machen, wenn wir den Stapel um 90 Grad kippen. Man stelle sich ein Bücherregal vor, dreimal so lang wie die Insel Manhattan, dicht gefüllt mit Bänden von der Größe des Untergangs des Römischen Reiches von Gibbon. Bis zur Zeit des Trilobiten alles zu lesen, wobei jedem Jahr nur eine Seite zugestanden wird, wäre mühsamer als das Durchackern aller 14 Millionen Bände der Library of Congress. Aber selbst der Trilobit ist noch jung im Vergleich zum Alter des Lebens selbst. Das Leben der ersten Organismen, der gemeinsamen Vorfahren von Trilobiten, Bakterien und Menschen, ist im Band   1 unseres Geschichtswerkes verzeichnet, und der Band   1 steht ganz am Ende des Mammut-Bücherregals. Insgesamt würde sich das Regal von London bis an die schottische Grenze erstrecken. Oder quer durch Griechenland von der Adria bis zur Ägäis.
    Vielleicht sind auch solche Entfernungsangaben noch unwirklich. Wenn man sich Analogien für große Zahlen ausdenkt, besteht die Kunst darin, den für Menschen begreiflichen Maßstab nicht zu verlassen. Geschieht das, hilft uns die Analogie nicht weiter als die eigentliche Zahl. Ein Geschichtswerk durchzulesen, dessen Bände ein Regal von Rom nach Venedig füllen, ist eine unvorstellbare Aufgabe, fast ebenso unbegreiflich wie die nüchterne Zahl von vier Milliarden Jahren.
    Hier noch ein Vergleich, diesmal einer, der schon früher benutzt wurde. Man breitet die Arme so weit wie möglich aus, sodass sie die Evolution von ihren Anfängen an der linken Fingerspitze bis zur Gegenwart an der rechten Fingerspitze umfassen. Die ganze Strecke über die Körpermitte hinweg bis weit über die rechte Schulter hinaus besteht das Leben ausschließlich aus Bakterien. Das vielzellige, wirbellose Leben blüht irgendwo in der Gegend des rechten Ellenbogens auf. Die Dinosaurier entstehen in der Mitte der rechten Handfläche und sterben ungefähr am letzten Fingergelenk wieder aus. Aber die gesamte Geschichte des Homo sapiens und seines Vorfahren, des Homo erectus , ist in der schmalen Hornsichel enthalten, die man vom Fingernagel abschneidet. Und was die aufgezeichnete Geschichte angeht – die Sumerer und Babylonier, die jüdischen Stammväter, die Dynastien der Pharaonen, die Legionen Roms, die christlichen Kirchenväter, die unabänderlichen Gesetze der Meder und Perser, Troja und die Griechen, Helena und Achilles und den toten Agamemnon, Napoleon und Hitler, die Beatles und Bill Clinton –, sie und alle, die sie gekannt haben, werden von einem einzigen leichten Strich mit der Nagelfeile als Staub hinweggetragen.
     
Die Armen sind rasch vergessen,
Ihre Zahl übersteigt die der Lebenden, doch wo sind ihre ganzen Gebeine?
Auf jeden Lebenden kommen eine Million Tote,
Ist ihr Staub im Erdboden verschwunden, daß man ihn gar nicht sieht?
Es dürfte keine Luft mehr zum Atmen da sein, bei so viel Staub,
Kein Raum für den Wind, für den Regen;
Die Erde müßte eine Wolke von Staub sein, ein Grund aus Knochen,
Kein Raum auch nur für unsere Skelette.
    Sacheverell Sitwell, «Agamemnon’s Tomb» (1933)
     
    Es spielt zwar eigentlich keine Rolle, aber Sitwells dritte Zeile ist ungenau. Schätzungen zufolge macht die heutige Weltbevölkerung einen
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