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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen
Autoren: Richard Dawkins
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Gehirn hat sich in der Evolution so entwickelt, dass es die zeitlichen Maßstäbe unserer eigenen Lebensdauer verstehen kann. Sekunden, Minuten, Stunden, Tage und Jahre – das fällt uns leicht. Auch mit Jahrhunderten kommen wir noch zurecht. Aber schon wenn es um Jahrtausende geht, läuft es uns kalt über den Rücken. Die Epen Homers, die Taten der griechischen Götter Zeus, Apollo und Artemis, die jüdischen Helden Abraham, Mose und David mit ihrem Furcht einflößenden Gott Jahwe, die Geschichte der alten Ägypter und des Sonnengottes Ra: Das alles inspiriert die Dichter und vermittelt uns den Schauer gewaltiger Zeiträume. Es scheint, als blickten wir durch einen unheimlichen Nebel auf die seltsamen Schatten der Antike. Aber nach dem zeitlichen Maßstab unseres Trilobiten hat sich diese viel gepriesene alte Zeit erst gestern ereignet.
    Es gab schon viele Versuche, das Unfassbare anschaulich zu machen, und ich möchte es ein weiteres Mal probieren. Schreiben wir die Geschichte eines Jahres auf ein einziges Blatt Papier. Für Einzelheiten bleibt dabei nicht viel Platz. Es entspricht ungefähr der aufschlussreichen Seite «Das war …», mit der die Zeitungen am 31. Dezember aufwarten. Jeder Monat erhält ein paar Sätze. Auf ein weiteres Blatt schreiben wir die Geschichte des vergangenen Jahres. So arbeiten wir uns durch die Jahre rückwärts und skizzieren jeweils auf einer Seite, was in jedem Jahr geschehen ist. Die Blätter binden wir zu Büchern, die wir nummerieren. Das 1776 bis 1788 in englischer Sprache erschienene Werk Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches von Gibbon erfasst in sechs Bänden von jeweils etwa 500 Seiten insgesamt 13 Jahrhunderte, das heißt, es arbeitet sich ungefähr mit der Geschwindigkeit, von der wir hier reden, durch die Vergangenheit.
     
    Schon wieder so ein verdammtes, dickes, viereckiges Buch. Immer nur Gekritzel, Gekritzel, Gekritzel! He! Mr.   Gibbon?
    William Henry, Erster Duke von Gloucester (1829)
     
    Das wunderbare Oxford Dictionary of Quotations (1992), aus dem ich diese Bemerkung gerade abgeschrieben habe, ist selbst ein verdammt dicker, viereckiger Klotz von einem Buch, und es hat ungefähr die richtige Größe, um uns bis in die Zeit der Königin Elisabeth   I. zu führen. Damit haben wir einen ungefähren Maßstab für die Zeit: In zehn Zentimetern Buchdicke ist die Geschichte eines Jahrtausends aufgezeichnet. Mit diesem Maßstab können wir uns in die fremdartige Welt der Erdgeschichte vorarbeiten. Wir legen das Buch über die jüngste Vergangenheit flach auf den Boden und schichten dann die Bände über frühere Jahrhunderte darauf. Wir selbst stellen uns als lebender Maßstab neben den Bücherstapel. Wenn wir beispielsweise etwas über Jesus lesen wollen, müssen wir einen Band auswählen, der 20 Zentimeter über dem Boden liegt – etwas oberhalb unserer Fußknöchel.
    Ein berühmter Archäologe grub einmal einen Krieger aus der Bronzezeit mit wunderschön erhaltener Gesichtsmaske aus und jubelte: «Ich habe Agamemnon ins Gesicht gesehen.» Dass er in die sagenumwobene Antike vorgedrungen war, erfüllte ihn mit poetischer Ehrfurcht. Um Agamemnon in unserem Bücherstapel zu finden, müssen wir uns ungefähr bis zur halben Höhe des Schienbeins bücken. Irgendwo nicht weit davon finden wir Petra («Eine rosenrote Stadt, halb so alt wie die Zeit»), Ozymandias, den Herrn der Herren («Schaut, was ich schuf, ihr Mächtigen, und verzagt»), und eines der sieben Weltwunder der Antike, die Hängenden Gärten von Babylon. Davor lagen das Ur der Chaldäer und Uruk, die Stadt des Sagenhelden Gilgamesch; auf die Geschichte ihrer Gründung stoßen wir ein wenig höher an unserem Bein. Glaubt man dem Erzbischof James Usher, beginnt dort die Zeitrechnung – er ermittelte im 17. Jahrhundert das Jahr 4004 vor Christus als Zeitpunkt der Schöpfung von Adam und Eva.
    Ein Einschnitt in der Menschheitsgeschichte war die Zähmung des Feuers, denn ohne Feuer ist die Entwicklung von Technik kaum möglich. In welcher Höhe unseres Bücherstapels befindet sich die Seite, auf der diese bahnbrechende Erfindung aufgezeichnet ist? Die Antwort ist ziemlich überraschend angesichts der Tatsache, dass man auf dem Stapel, der die gesamte niedergeschriebene Geschichte enthält, bequem sitzen kann. Den archäologischen Spuren zufolge war Homo erectus der erste, der das Feuer beherrschte, aber ob diese Frühmenschen schon Feuer machen konnten oder es nur unterhielten
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