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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen
Autoren: Richard Dawkins
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beträchtlichen Anteil aller Menschen aus, die jemals gelebt haben. Aber darin spiegeln sich nur die Auswirkungen des exponentiellen Wachstums wider. Wenn wir nicht Körper, sondern Generationen zählen, und insbesondere wenn wir über die Geschichte der Menschheit hinaus bis zu den Anfängen des Lebens zurückgehen, bekommen Sacheverell Sitwells Überlegungen eine neue Bedeutung. Nehmen wir einmal an, in unserer unmittelbaren weiblichen Ahnenreihe seit dem ersten Aufblühen des vielzelligen Lebens vor wenig mehr als einer halben Milliarde Jahren habe sich jedes einzelne Wesen auf dem Grab seiner Mutter niedergelegt und wäre dort gestorben, um dann schließlich zu versteinern. Wie bei den aufeinander folgenden Schichten der untergegangenen Stadt Troja würde vieles zusammengedrückt und durcheinander gewürfelt, also nehmen wir außerdem an, dass jedes Fossil der Reihe nach wie ein Pfannkuchen auf eine Dicke von einem Zentimeter plattgedrückt würde. Welche Gesteinstiefe würden wir brauchen, um unsere ununterbrochen aufeinander folgenden Fossilien unterzubringen? Die Antwort: Der Felsen müsste etwa 1000 Kilometer dick sein, zehnmal so dick wie die Erdkruste.
    Der Grand Canyon, dessen Gestein von den tiefsten bis zu den obersten Schichten einen großen Teil des fraglichen Zeitraums widerspiegelt, ist nur ungefähr eineinhalb Kilometer tief. Wären seine Schichten mit Fossilien voll gestopft, ohne dass anderes Gestein dazwischenliegt, wäre in seiner Tiefe nur Platz für etwa jede 600. der Generationen, die nacheinander gestorben sind. Diese Berechnung hilft uns, die Forderung der Fundamentalisten richtig einzuschätzen, die eine «ununterbrochene», sich allmählich wandelnde Fossilienreihe verlangen, bevor sie die Evolution als Tatsache anerkennen wollen. Im Gestein der Erde ist für solchen Luxus schlicht und einfach kein Platz – es ist um viele Zehnerpotenzen zu klein. Wie man es auch betrachtet: Nur ein äußerst kleiner Teil aller Lebewesen hat das Glück, zu Fossilien zu werden. Und wie ich schon sagte, sollte man das als Ehre betrachten.
     
    Die Zahl der Toten übersteigt um ein Beträchtliches die Zahl all derer, die da leben werden. Die Nacht der Zeit ist weit länger als der Tag, und wer weiß, wann das Äquinoktium war? Jede Stunde mehrt dieses Rechenergebnis, das kaum einen Augenblick lang stille steht … Wer weiß, ob die Besten im Gedächtnis bleiben werden, oder ob nicht Bessere der Vergessenheit anheimfallen, als die bekannte Überlieferung bewahrt?
    Sir Thomas Browne, Urne Buriall (1658)

2 Im Salon der Herzöge
Jag durch dieselbe Mühle ihre Seelen,
Bind sie um Herz und Stirne fest genug;
Es wird der Dichter doch den Regenbogen wählen,
So wie sein Bruder folgt dem Pflug.
John Boyle O’Reilly (1844   –   1890),
«The Rainbow’s Treasure»
    Die Betäubungswirkung des Vertrauten durchbrechen – das können Dichter am besten. Es ist ihr Beruf. Aber zu viele Dichter haben zu lange übersehen, welche Goldader der Inspiration die Naturwissenschaft darstellt. W. H. Auden, die führende Gestalt in seiner Dichtergeneration, empfand für die Wissenschaftler zwar eine schmeichelhafte Sympathie, aber auch er griff nur ihre praktische Seite heraus und verglich sie – zu ihren Gunsten – mit Politikern; welche dichterischen Möglichkeiten die Wissenschaft selbst birgt, erkannte er dagegen nicht.
     
    Die eigentlichen Handelnden in unsrer Zeit, diejenigen, die die Welt verändern, sind nicht die Politiker und Staatsmänner, sondern die Wissenschaftler. Unglücklicherweise kann die Dichtung sie nicht feiern, weil ihre Taten auf Dinge, nicht auf Menschen gerichtet und deshalb wortlos sind.
    Wenn ich mich in Gesellschaft von Naturwissenschaftlern befinde, komme ich mir stets wie ein schäbiger Vikar vor, der versehentlich in einen mit Herzögen angefüllten Salon geraten ist.
    «Der Dichter und die Großstadt», Des Färbers Hand (1963)
     
    Seltsamerweise geht es mir und vielen anderen Wissenschaftlern in Gegenwart von Dichtern genauso. Tatsächlich – ich werde darauf noch zurückkommen – ist das wohl die normale Einschätzung unserer Kultur, was das Verhältnis der Stellung von Wissenschaftlern und Dichtern betrifft, und es dürfte auch der Grund gewesen sein, dass Auden sich die Mühe machte und das Gegenteil feststellte. Aber warum behauptete er so entschieden, Dichtung könne Wissenschaftler und ihre Taten nicht feiern? Wissenschaftler verändern die Welt vielleicht nachhaltiger als
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