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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen
Autoren: Richard Dawkins
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Vorfahren nicht mein Vorfahre, sondern der eines anderen Menschen wurde. Ich rede hier nicht von der «Chaostheorie» oder der ebenso modernen «Komplexitätstheorie», sondern nur von der schlichten Statistik der Kausalbeziehungen. Der Faden des historischen Geschehens, an dem unser Dasein hängt, ist erschreckend dünn.
     
    Verglichen mit der Zeit, die wir nicht kennen, o König, ist unser Leben auf Erden wie der Flug eines Sperlings durch jenen Saal, wo Ihr im Winter mit Euren Heerführern und Dienstmannen sitzt. Der Sperling fliegt zur einen Tür herein und zur anderen hinaus, und solange er drinnen ist, ist er gefeit gegen die Winterstürme; doch diese kurze Ruhepause ist im Nu vorbei; er kehrt zurück in den Winter, aus dem er gekommen, und verschwindet aus Eurer Sicht. Mit dem menschlichen Leben ist es ebenso, und was danach sein wird oder davor war, entzieht sich unserer Kenntnis.
    Beda Venerabilis,
    A History of the English Church and People (731)

    Auch in anderer Hinsicht haben wir Glück gehabt. Das Universum ist über 100 Millionen Jahrhunderte alt. Nach einem vergleichbar langen weiteren Zeitraum wird die Sonne zu einem roten Riesen angewachsen sein und die Erde verschlingen. Jedes dieser vielen hundert Millionen Jahrhunderte war zu seiner Zeit «das derzeitige Jahrhundert» oder wird es sein, wenn seine Zeit kommt. Interessanterweise können sich manche Physiker mit der Vorstellung von einer «wandernden Gegenwart» nicht anfreunden: Sie ist in ihren Augen ein subjektives Phänomen, für das sie in ihren Gleichungen keinen Platz finden. Aber ich argumentiere hier durchaus subjektiv. Für mich – und ich nehme an, auch für andere Menschen – fühlt es sich so an, als ob die Gegenwart aus der Vergangenheit in die Zukunft wandert, wie ein winziger Scheinwerferkegel, der an einem riesigen Zeitlineal entlangkriecht. Hinter dem Lichtkegel liegt alles im Dunkeln, in der Düsternis einer toten Vergangenheit. Und alles vor dem Lichtkegel liegt in der Dunkelheit der unbekannten Zukunft. Die Chance, dass unser Jahrhundert gerade dasjenige ist, auf dem der Scheinwerfer ruht, ist ebenso groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig in die Luft geworfener Pfennig auf eine ganz bestimmte, auf der Straße von New York nach San Francisco krabbelnde Ameise trifft. Mit anderen Worten: Jeder von uns ist mit überwältigend großer Wahrscheinlichkeit tot.
    Trotz dieser schlechten Chancen bemerken wir, dass wir in Wirklichkeit lebendig sind. Menschen, an denen der Scheinwerferkegel bereits vorübergegangen ist, und auch solche, die er noch nicht erreicht hat, können kein Buch lesen. Ebenso großes Glück habe ich, dass ich in der Lage bin, ein Buch zu schreiben – allerdings kann ich das vielleicht nicht mehr, wenn Sie diese Worte lesen. Eigentlich hoffe ich sogar, dass ich dann tot bin. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich liebe das Leben und wünsche mir, es möge noch lange dauern, aber jeder Autor möchte, dass seine Werke eine möglichst große Leserschaft erreichen. Und da die Gesamtbevölkerung der Zukunft wohl beträchtlich größer sein wird als die Zahl meiner Zeitgenossen, muss es einfach mein Bestreben sein, nicht mehr zu leben, wenn Sie diese Worte sehen. Nüchtern betrachtet, ist es schlicht die Hoffnung, dass mein Buch nicht so schnell aus dem Verlagsprogramm genommen wird. Aber beim Schreiben sehe ich nur eines: Ich habe Glück, dass ich am Leben bin, und das gilt auch für alle anderen.
    Wir bewohnen einen Planeten, der für unsere Art von Leben fast ideal ist: nicht zu warm und nicht zu kalt, von freundlichem Sonnenlicht beschienen und sanft bewässert – ein gemächlich rotierendes, grün-goldenes Prachtstück von einem Planeten. Ja, und leider gibt es auch Wüsten und Slums, Hunger und quälendes Elend. Aber sehen wir uns einmal die Konkurrenz an. Im Vergleich zu den meisten Planeten ist unserer ein Paradies, und manche Teile der Erde sind paradiesisch, ganz gleich, welchen Maßstab man anlegt. Wie groß ist die Chance, dass ein zufällig ausgewählter Planet diese angenehmen Eigenschaften hat? Sie läge selbst bei noch so optimistischer Berechnung unter eins zu einer Million.
    Stellen wir uns einmal ein Raumschiff mit schlafenden Entdeckern vor, tiefgefrorenen Siedlern in spe aus irgendeiner weit entfernten Welt. Vielleicht gehört das Schiff zu einer Verzweiflungsmission, mit der die Spezies gerettet werden soll, bevor ein unaufhaltsamer Komet auf ihrem Heimatplaneten einschlägt
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