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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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schienen, wenn sie allein im Elefantenhaus waren, als wenn sie sich öffentlich dem Publikum zeigten. Man konnte es den kleinsten Gesten zwischen ihnen entnehmen. Es schien, als würden sie ihre Zuneigung tagsüber mit größter Sorgfalt für sich behalten, sodass die Leute nichts von ihrer Vertrautheit merkten, um sie dann am Abend, wenn sie allein waren, zu teilen. Das heißt nicht, dass sich irgendetwas Besonderes im Elefantenhaus abspielte. Der Elefant stand da und starrte wie immer vor sich hin, und der Pfleger ging seinen gewöhnlichen Aufgaben als Pfleger nach, er wusch den Körper des Elefanten mit einem Schrubber, sammelte die riesigen zu Boden gefallenen Haufen auf und räumte das Essen weg. Doch die eigentümliche Wärme zwischen den beiden, die zu ihrer engen Vertrautheit führte, war nicht zu übersehen. Während der Pfleger den Boden fegte, schwenkte der Elefant seinen Rüssel und klopfte dem Pfleger sanft auf den Rücken. Ich liebte es, ihm dabei zuzusehen.
    »Hatten Sie schon immer etwas für Elefanten übrig? Also ich meine, nicht nur für diesen Elefanten …?«, fragte sie.
    »Ja, vielleicht. Ich glaube schon«, antwortete ich. »Elefanten haben irgendwie etwas Aufregendes für mich. Ich glaube, das war immer so. Warum, weiß ich nicht genau.«
    »Und auch an jenem Tag sind Sie also nach Sonnenuntergang auf Ihren Hügel gestiegen und haben dem Elefanten zugeschaut?«, fragte sie. »Am … der wievielte Mai war es noch?«
    »Der siebzehnte«, sagte ich. »Am siebzehnten Mai, etwa abends um sieben. Die Tage sind dann schon ziemlich lang, und am Himmel hing noch etwas Abendrot. Im Elefantenhaus aber brannte bereits das Licht.«
    »Und es gab damals nichts besonders Auffälliges in Bezug auf den Elefanten und den Pfleger?«
    »Ja und nein. Ich kann es nicht genau sagen. Ich stand ja auch nicht direkt vor ihnen. Wahrscheinlich bin ich kein besonders vertrauenerweckender Augenzeuge.«
    »Was ist denn nun geschehen?«
    Ich trank einen Schluck Whisky on the rocks, der von dem geschmolzenen Eis schon etwas wässrig geworden war. Vor dem Fenster fiel noch immer der Regen. Er war nicht stärker geworden, aber auch nicht schwächer. Er schien Teil einer ewig währenden, statischen Landschaft zu sein.
    »Eigentlich ist nichts passiert«, sagte ich. »Der Elefant und der Pfleger taten das, was sie immer taten. Fegen, essen, sie scherzten ein wenig in ihrer vertrauten Art. Es war das Gleiche wie immer. Aber was mich etwas stutzen ließ, war das Gleichgewicht zwischen den beiden.«
    »Gleichgewicht?«
    »Ich meine das Gleichgewicht in Bezug auf die Größe. Das Verhältnis zwischen dem Körper des Elefanten und dem des Pflegers. Ich hatte das Gefühl, als sei das Verhältnis zwischen ihnen ein bisschen anders als sonst. Als wäre der Größenunterschied zwischen dem Elefanten und dem Pfleger kleiner geworden.«
    Sie sah eine Weile in ihr Daiquiri-Glas. Das Eis war geschmolzen, und wie eine kleine Meeresströmung versuchte sich das Wasser einen Weg durch den Cocktail zu bahnen.
    »Soll das bedeuten, dass der Körper des Elefanten geschrumpft war?«
    »Oder dass der Pfleger größer geworden war, oder beides gleichzeitig.«
    »Und Sie haben das nicht der Polizei gemeldet?«
    »Natürlich nicht«, sagte ich. »Zunächst einmal hätten sie mir nicht geglaubt, und wenn ich ihnen erzählt hätte, dass ich zu jenem Zeitpunkt den Elefanten vom Hügel aus beobachtet hatte, wäre ich am Ende der Verdächtige gewesen.«
    »Aber Sie sind sich sicher, dass dieses Gleichgewicht anders war als sonst?«
    »Vielleicht«, sagte ich. »Mehr als vielleicht kann ich nicht sagen. Ich habe keine Beweise und außerdem habe ich, wie ich schon mehrmals betont habe, nur durch ein Lüftungsfenster hineingesehen. Andererseits hatte ich den Elefanten und seinen Pfleger schon zig Mal unter den gleichen Bedingungen beobachtet, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich in Bezug auf ihr Größenverhältnis geirrt habe.«
    Ich hatte mich damals gefragt, ob es vielleicht eine optische Täuschung sein könnte, und meine Augen geschlossen und mit dem Kopf hin- und hergewackelt, aber immer, wenn ich wieder hinsah, war die Größe des Elefanten unverändert geblieben. Der Elefant schien tatsächlich geschrumpft zu sein. Anfangs dachte ich sogar, die Stadt habe vielleicht einen neuen kleineren Elefanten bekommen. Aber mir war nichts davon zu Ohren gekommen – und Neuigkeiten über einen Elefanten wären mir wohl kaum entgangen. Die einzige
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