Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Fragen.
    Ich gab dazu nur ganz allgemeine und banale Erklärungen ab, wie sie auch in der Zeitung standen. Doch sie schien die gezwungene Gleichgültigkeit in meinem Tonfall zu spüren. Lügen war noch nie meine Stärke gewesen.
    »Sie waren sicherlich sehr überrascht, als der Elefant verschwunden war?«, fragte sie, als ob nichts gewesen wäre, und trank von ihrem zweiten Daiquiri. »Dass ein Elefant plötzlich verschwindet, lässt sich doch unmöglich voraussehen.«
    »Ja. Wahrscheinlich«, sagte ich. Ich nahm eine der auf einem Glasteller aufgehäuften Brezeln, teilte sie in zwei Hälften und aß eine davon. Der Kellner kam und tauschte unseren Aschenbecher gegen einen sauberen aus.
    Interessiert betrachtete sie eine Weile mein Gesicht. Ich steckte mir erneut eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Ich hatte drei Jahre lang nicht geraucht, aber mit dem Verschwinden des Elefanten hatte ich wieder angefangen.
    »›Wahrscheinlich‹? Heißt das, dass Sie es ein wenig voraussehen konnten?«, fragte sie.
    »Natürlich kann man so etwas nicht«, sagte ich lachend. »Dass ein Elefant plötzlich eines Tages verschwindet – das hat es noch nie gegeben, und es gibt keinen zwingenden Grund dafür. Es ist völlig unlogisch.«
    »Trotzdem war Ihre Antwort äußerst seltsam. Als ich sagte: ›Dass ein Elefant plötzlich verschwindet, lässt sich unmöglich voraussehen‹, antworteten Sie: ›Ja. Wahrscheinlich‹. Normalerweise würde man doch sagen: ›Das stimmt‹ oder ›Ja, das kann niemand ahnen‹.«
    Ich nickte ihr vage zu, winkte dann dem Kellner und bestellte mir einen zweiten Scotch. Bis er ihn brachte, schwiegen wir vorläufig.
    »Ich verstehe das nicht richtig«, sagte sie leise. »Bis eben haben Sie sich ganz normal mit mir unterhalten. Bis zu der Geschichte mit dem Elefanten. Aber seit dem Elefanten reden Sie auf einmal anders. Ich weiß nicht, was Sie sagen wollen, was ist denn los? Ist irgendwas mit dem Elefanten? Oder stimmt was mit meinen Ohren nicht?«
    »Ihre Ohren sind in Ordnung«, sagte ich.
    »Also liegt das Problem bei Ihnen?«
    Ich steckte meinen Finger in das Glas und rührte das Eis herum. Ich mag das Geräusch, wenn die Eiswürfel ans Glas klicken.
    »Problem ist vielleicht zu viel gesagt«, meinte ich. »Es ist nur eine Kleinigkeit. Es ist nicht so, dass ich etwas verberge, ich rede darüber nur nicht, weil ich nicht sicher bin, ob ich es erklären kann. Aber Sie haben recht, es ist eine komische Geschichte.«
    »Wieso komisch?«
    Ich kapitulierte. Ich nahm einen Schluck Whisky und fing an zu erzählen.
    »Tatsache ist, dass ich wahrscheinlich der Letzte bin, der den Elefanten gesehen hat. Ich habe ihn am siebzehnten Mai abends nach sieben Uhr gesehen, und am darauffolgenden Nachmittag hat man sein Fehlen bemerkt, in der Zwischenzeit hat keiner den Elefanten gesehen. Denn abends um sechs schließen sie die Tür zum Elefantenhaus.«
    »Das verstehe ich nicht ganz.« Sie sah mir in die Augen. »Wenn das Elefantenhaus geschlossen wurde, wie konnten Sie dann den Elefanten sehen?«
    »Hinter dem Elefantenhaus gibt es einen Hügel, eine Art Steilhang fast. Es ist ein Privatgrundstück ohne richtige Wege, aber es gibt eine Stelle, von der aus man von hinten ins Elefantenhaus reingucken kann. Wahrscheinlich weiß nur ich davon.«
    Ich hatte diese Stelle vollkommen zufällig entdeckt. Eines Sonntagnachmittags hatte ich mich beim Spazierengehen auf dem Berg verlaufen und war zufällig auf der Suche nach dem richtigen Weg an diese Stelle gekommen. Es gab eine kleine Mulde, gerade groß genug für eine Person, und als ich durch die Sträucher hinuntersah, entdeckte ich genau unter mir das Dach des Elefantenhauses. Ein wenig unterhalb des Daches war ein relativ großes Lüftungsfenster, und durch dieses konnte ich deutlich das Innere des Elefantenhauses sehen.
    Von da an wurde es mir zur Gewohnheit, ab und zu dort vorbeizugehen und den Elefanten in seinem Haus zu beobachten. Hätte man mich gefragt, warum ich mir extra diese Mühe machte, hätte ich keine richtige Antwort gewusst. Ich wollte bloß den Elefanten in seiner privaten Zeit betrachten. Einen anderen triftigen Grund gab es nicht.
    Wenn das Elefantenhaus dunkel war, konnte ich den Elefanten natürlich nicht sehen, aber am frühen Abend schaltete der Pfleger das Licht ein und versorgte den Elefanten, und ich konnte ihr Benehmen in allen Einzelheiten beobachten.
    Mir fiel auf, wie viel vertrauter der Elefant und sein Pfleger miteinander
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher