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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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Ausdruck »der Elefant entfloh«, doch wenn man den ganzen Artikel durchging, war vollkommen klar, dass von »entfliehen« überhaupt nicht die Rede sein konnte. Der Elefant war ganz ohne Zweifel »verschwunden«. Der Schreiber erklärte seine Widersprüche damit, dass es bei einigen Details noch einige Unklarheiten gäbe. Doch meines Erachtens schien es sich hier keineswegs um etwas zu handeln, was sich mit so gewöhnlichen Worten wie »Detail« und »Unklarheit« erledigen ließe.
    Zunächst war da das Problem des Eisenrings, der am Bein des Elefanten befestigt gewesen war. Der Eisenring war in verschlossenem Zustand zurückgeblieben. Die sinnvollste Erklärung dafür war, dass der Pfleger den Eisenring mit dem Schlüssel geöffnet, ihn vom Fuß des Elefanten entfernt und danach wieder geschlossen hatte und mit dem Elefanten geflohen war (natürlich hielt sich die Zeitung an diese Variante), aber das Problem war, dass der Pfleger keinen Schlüssel besaß. Es gab nur zwei Schlüssel, von denen aus Sicherheitsgründen der eine im Safe der Polizeistation, der andere im Safe der Feuerwache aufbewahrt wurde, und es war so gut wie unmöglich, dass der Pfleger – oder irgendjemand sonst – den Schlüssel von dort entwendet haben könnte. Und selbst wenn es möglich gewesen sein sollte, so bestand doch nicht die geringste Notwendigkeit, den Schlüssel nach Gebrauch extra wieder an seinen Ursprungsort zurückzulegen. Als man jedoch am folgenden Morgen nach den beiden Schlüsseln suchte, lagen sie ordentlich in ihren Safes auf der Polizeistation und auf der Feuerwache. Demnach musste der Elefant sein Bein ohne die Hilfe des Schlüssels aus dem massiven Eisenring herausbekommen haben, was aber schlechterdings unmöglich war, es sei denn, man hätte den Fuß des Elefanten mit einer Säge abgetrennt.
    Das zweite Problem war der Fluchtweg. Das Elefantenhaus und das Elefantengehege waren von einem fast drei Meter hohen, massiven Zaun umgeben. Es hatte bezüglich der Sicherheitsmaßnahmen eine besonders heftige Debatte in der Stadtverordnetenversammlung gegeben, und die Stadt hatte sich auf ein Schutzsystem geeinigt, das einem alten Elefanten gegenüber wohl als etwas übertrieben bezeichnet werden konnte. Der Zaun war aus Beton und dicken Eisenstäben (die Kosten dafür hatte natürlich die Immobilienfirma übernommen), und es gab nur einen Eingang, der von innen zugesperrt gewesen war. Es war ausgeschlossen, dass der Elefant diese festungsartige Umzäunung hätte überwinden und nach außen gelangen können.
    Das dritte Problem waren die Fußspuren. Hinter dem Elefantenhaus lag ein steiler Hügel, den der Elefant unmöglich hätte erklimmen können, sodass er also, angenommen, es wäre ihm auf irgendeine Weise gelungen, seinen Fuß aus dem Eisenring zu ziehen und über den Zaun zu klettern, nur auf dem Weg vorne hätte fliehen können. Doch auf dem weichen sandigen Boden gab es nichts, was auch nur annähernd den Fußstapfen eines Elefanten gleichkam.
    Kurzum, wenn man diesen vor Verwirrung und inkonsequenter Rhetorik strotzenden Zeitungsartikel zusammenfasste, gab es im Wesentlichen nur eine Schlussfolgerung: Der Elefant war nicht »geflohen«, sondern »verschwunden«.
    Aber natürlich wollten weder die Zeitung noch die Polizei und der Bürgermeister, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, zugeben, dass der Elefant verschwunden war. Die Polizei betrieb ihre Nachforschungen davon ausgehend, dass der Elefant »aller Wahrscheinlichkeit nach vorsätzlich und unter Anwendung ausgeklügelter Methoden gewaltsam entwendet wurde, oder aber dass ihm zur Flucht verholfen worden ist«. Ihr Sprecher verkündete optimistisch, dass »in Anbetracht der Schwierigkeiten, die das Verstecken eines Elefanten bereitet, die Lösung dieses Falls nur noch eine Frage der Zeit ist«. Außerdem plante die Polizei, den lokalen Jagdverein und die Scharfschützen der Selbstverteidigungsstreitkräfte zu mobilisieren und mit deren Hilfe die Berge zu durchsuchen.
    Der Bürgermeister hielt eine Pressekonferenz ab (deren Bericht nicht im Lokalteil, sondern im Hauptteil, auf der Seite »Aus aller Welt«, abgedruckt war) und entschuldigte sich für die Mängel im städtischen Sicherheitssystem. Zugleich betonte er jedoch, dass »unser Elefantenverwahrungssystem vergleichbaren Einrichtungen anderer zoologischer Gärten ganz Japans in nichts nachsteht, ja, es ist sogar um einiges stabiler und zuverlässiger als der Standard«, und weiter sagte er, dass »es sich
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