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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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dann wohl machen? Das Nächste sind vielleicht Schadensversicherungen für Chinesen. Oder ich verkaufe Grabsteine. Ach egal, irgendwas werde ich schon verkaufen können.«
    Ich wollte ihm noch etwas sagen. Bestimmt würde ich ihn nie wiedersehen. Was ich ihm sagen wollte, bezog sich irgendwie auf Chinesen. Aber mir fiel nicht ein, was eigentlich. Also sagte ich lediglich ein paar übliche Abschiedsfloskeln.
    Auch heute würde mir nichts einfallen.
    5
    Angenommen, ich würde noch einmal, mit über dreißig, einen Flugball verfolgen und mit vollem Tempo gegen den Pfosten eines Basketballkorbs krachen und noch einmal, den Kopf auf einem Baseballhandschuh gebettet, unter einem Weinspalier die Augen öffnen, was würde ich wohl sagen? Vielleicht: » Dies ist auch kein Ort für mich .«
    Das ging mir durch den Kopf, als ich in der Yamanote-Linie fuhr. Ich stand an der Tür und blickte durchs Fenster auf die Gebäude und Straßen, die Fahrkarte fest in den Händen, um sie nicht zu verlieren. Unsere Stadt, diese Straßen stimmten mich irgendwie unendlich traurig. Erneut überkam mich jene vertraute – trübem Kaffeegelee gleiche – Düsterkeit, der die Städter wie in jährlichen Riten erliegen. Schmutzige Fassaden, Scharen namenloser Menschen, unablässiger Lärm, reglose Autoschlangen, grauer Himmel, Reklametafeln, die jeden freien Zentimeter ausfüllten, Begehren, Resignation, Nervosität und Erregung. Es gab unzählige Optionen. Unzählige und zugleich keine. Wir hielten sie alle in Händen und besaßen doch nichts. So war die Stadt. Unwillkürlich musste ich an die Worte des chinesischen Mädchens denken. »Lass nur, ich gehöre sowieso nicht hierher.«
    Ich sehe auf Tōkyō und denke an China.
    Ich bin also vielen Chinesen begegnet. Ich habe auch viele Bücher über China gelesen. Von »Die Aufzeichnungen des Historikers« bis »Roter Stern über China«. Ich wollte alles über China erfahren. Aber dieses China existiert nur für mich. Nur ich kann es entziffern. Dieses China schickt nur mir Botschaften. Es ist nicht das gelb lackierte China auf dem Globus, es ist ein anderes China. Es ist eine Annahme, ein Provisorium. In gewissem Sinne ist es ein Teil von mir, abgeschnitten durch das Wort China. Ich durchwandere China. Doch brauche ich dafür nicht ins Flugzeug zu steigen. Meine Wanderungen ereignen sich in den U-Bahnen Tōkyōs und auf den Rücksitzen der Taxis. Meine Abenteuer finden im Wartezimmer der nahegelegenen Zahnarztpraxis und am Bankschalter statt. Ich kann überall und nirgendwo hin.
    Tōkyō – eines Tages, in der Yamanote-Linie, wird auch dieser Stadt plötzlich ihre Realität abhanden kommen. Mit einem Mal werden die Gebäude vorm Fenster zusammenstürzen. Meine Fahrkarte fest in den Händen, starre ich auf diese Szenerie. Wie Asche fällt auf Tōkyōs Straßen mein China herab, unaufhaltsam zerfrisst es diese Stadt. Stück für Stück geht sie verloren. Ja, dies ist auch kein Ort für mich. So verlieren sich unsere Worte, und irgendwann verschwimmen unsere Träume. So wie jene eintönige, nicht enden wollende Pubertät irgendwann im Leben plötzlich verschwunden ist.
    Irrtum – vielleicht ist der Irrtum, wie das chinesische Mädchen meinte (und wie die Psychoanalytiker behaupten), im Grunde ein paradoxes Begehren. Dann wäre gerade auch der Irrtum ich selbst und du selbst. Es gibt keinen Ausweg, nirgends.
    Doch ich will das bisschen Stolz als ehemals treuer Außenfeldspieler unten im Koffer verstauen, mich auf die Steinstufen am Hafen setzen und auf das Frachtschiff nach China warten, das vielleicht irgendwann am Horizont auftauchen wird. Ich will mir die glitzernden Dächer der chinesischen Städte vorstellen und die grünen Wiesen.
    Was auch immer auf Verlust und Zerstörung folgen mag, ich fürchte mich nicht mehr davor. So wenig wie der letzte Schlagmann beim Baseball die einwärts gerichteten Würfe fürchtet oder der leidenschaftliche Revolutionär den Strick. Wenn es doch nur in Erfüllung ginge ...
    Ach, meine Freunde, China ist so weit.

Der Elefant verschwindet
    Vom Verschwinden des Elefanten aus dem städtischen Elefantenhaus erfuhr ich aus der Zeitung. Wie jeden Morgen war ich an jenem Tag beim Klingeln des Weckers um sechs Uhr dreizehn aufgewacht, war in die Küche gegangen, hatte Kaffee gekocht, eine Scheibe Brot getoastet, das Radio eingeschaltet und, während ich meinen Toast aß, die Morgenausgabe der Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet. Da ich ein Mensch bin, der die Zeitung von
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