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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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machen und fange gerade an, sie zurückzuzahlen.«
    »Schon gut«, sagte er. Er schüttelte den Kopf. »Ich will dir ja keine Enzyklopädie verkaufen. Ich mag zwar ein armer Schlucker sein, aber so weit bin ich nicht heruntergekommen. Und ehrlich gesagt, muss ich nicht an Japaner verkaufen. Das ist die Abmachung.«
    »Japaner?«, fragte ich.
    »Ja, ich bin auf Chinesen spezialisiert. Ich verkaufe die Enzyklopädien nur an Chinesen. Ich suche mir aus dem Telefonbuch die chinesischen Familien in Tōkyō raus, fertige eine Liste an und statte nacheinander jeder einen Besuch ab. Wer auf diese Idee gekommen ist, weiß ich nicht, aber sie ist ziemlich gut. Man verdient nicht schlecht dabei. Ich klingle an der Tür, sage guten Tag und mit den Worten ›Darf ich mich vorstellen‹ überreiche ich meine Visitenkarte. Das ist alles. Danach läuft die Sache aufgrund der sogenannten Vertrautheit unter Landsleuten wie von selbst.«
    Auf einmal fiel der Groschen.»Ich hab’s«, sagte ich.
    Er war der Chinese, den ich von der Oberschulzeit her kannte.
    »Es ist seltsam. Mir ist selbst nicht klar, wie ich in die Lage geraten konnte, mit Enzyklopädien bei Chinesen hausieren zu gehen.« Seine Ausdrucksweise klang sehr objektiv. »Natürlich weiß ich die Einzelheiten noch, aber das Ganze, also wie sich alles zusammengefügt und entwickelt hat, überschaue ich nicht. Ehe ich mich versah, war es so gekommen.«
    Wir waren weder in die gleiche Klasse gegangen, noch hatten wir uns persönlich besonders nah gestanden. Er war so was wie der Freund eines Freundes. Aber soweit ich mich erinnere, war er nicht der Typ eines Enzyklopädien-Vertreters gewesen. Er kam aus einer guten Familie, und seine Noten waren bestimmt besser als meine. Ich glaube, er hatte auch Erfolg bei Mädchen.
    »Na ja, es ist natürlich viel passiert, doch das ist eine lange, düstere und banale Geschichte. Es ist besser, nicht danach zu fragen«, sagte er.
    Da ich nicht wusste, was ich antworten sollte, schwieg ich.
    »Es ist nicht allein meine Schuld«, sagte er. »Es kamen mehrere Schwierigkeiten zusammen. Aber letzten Endes ist es wohl doch meine Schuld.«
    Ich versuchte währenddessen, ihn mir in unserer Schulzeit ins Gedächtnis zu rufen. Aber alles war verschwommen. Einmal, glaubte ich mich zu erinnern, saßen wir bei irgendwem am Küchentisch, tranken Bier und sprachen über Musik. Vielleicht war es ein Nachmittag im Sommer. Aber ich war mir nicht sicher. Es schien wie ein Traum, den ich vor langer Zeit geträumt und vergessen hatte.
    »Warum habe ich dich bloß angesprochen?«, sagte er wie zu sich selbst. Eine Weile ließ er mit den Fingern das Feuerzeug auf dem Tisch kreisen. »Auf jeden Fall habe ich dich gestört, nicht wahr? Entschuldige bitte. Doch als ich dich sah, wurde ich ganz sentimental. Das heißt nicht, dass ich etwas Bestimmtem nachtrauere.«
    »Du hast mich überhaupt nicht gestört«, sagte ich. Das stimmte wirklich. Auch mir war, obwohl ich gar keinen Grund dazu hatte, irgendwie sentimental zumute.
    Wir schwiegen eine Weile. Worüber sollten wir weiter sprechen? Ich rauchte meine letzte Zigarette, und er trank seinen letzten Schluck Kaffee.
    »Ich mache mich mal langsam wieder auf den Weg«, sagte er, wobei er Zigaretten und Feuerzeug einsteckte. Er schob den Stuhl etwas nach hinten. »Ich darf nicht zu viel Zeit vertrödeln. Ich muss noch verkaufen.«
    »Hast du keinen Prospekt?«, fragte ich.
    »Prospekt?«
    »Von den Enzyklopädien.«
    »Ach so«, sagte er zerstreut. »Im Moment habe ich keinen dabei. Möchtest du einen sehen?«
    »Gerne. Aus Neugier.«
    »Ich schicke dir einen von zu Hause. Gibst du mir deine Adresse?«
    Ich riss eine Seite aus meinem Notizbuch, schrieb meine Adresse darauf und gab sie ihm. Er betrachtete sie kurz, faltete dann das Papier ordentlich viermal zusammen und steckte es in sein Visitenkartenetui.
    »Es ist ein ziemlich gutes Lexikon. Ich sage das nicht, weil ich es verkaufe. Aber es ist wirklich gut gemacht. Mit vielen Farbfotos. Es ist auf jeden Fall nützlich. Ich lese auch manchmal darin rum, es wird nie langweilig.«
    »Ich kann zwar nicht sagen, wie lange es dauert, aber wenn ich mal etwas Luft habe, kaufe ich vielleicht eins.«
    »Das wäre schön.« Er lächelte wieder, wie auf einem Wahlplakat. »Vielleicht wird ja was draus. Aber ich habe dann wahrscheinlich schon nichts mehr mit Enzyklopädien zu tun. Wenn ich die chinesischen Familien in etwa abgeklappert habe, ist das Geschäft vorbei. Was werde ich
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