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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel
Autoren: Thomas Metzinger
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plötzlich verstehen, dass das schöpferische physikalische Universum nicht nur das Leben und biologische Organismen mit Nervensystemen hervorgebracht hat, sondern auch das Phänomen des Bewusstseins, innere Weltmodelle und stabile Erste-Person-Perspektiven und dass es dadurch die Tür hin zu etwas geöffnet hat, was man das »soziale Universum« nennen könnte: zu symbolischer Kommunikation auf einer hohen Ebene, zur rationalen Argumentation, zur Entstehung einer Ideen- und Theoriegeschichte.
    Wir sind etwas Besonderes. In uns manifestiert sich ein signifikanter Phasenübergang. Wir brachten eine starke Form von Subjektivität in das physikalische Universum – eine Form von Subjektivität, die durch Begriffe und Theorien vermittelt ist. Zumindest in dem extrem kleinen und begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit, den wir kennen, sind wir die einzigen empfindungsfähigen Wesen, für die die schiere Tatsache ihrer individuellen Existenz zu einem theoretischen Problem geworden ist. Wir haben die Philosophie und die Wissenschaft erfunden und einen ergebnisoffenen Vorgang eingeleitet, bei dem wir auf selbstreflektive Weise immer neues Wissen gewinnen. Das heißt: Wir sind rein physikalische Wesen, deren repräsentationale Fähigkeiten so stark geworden sind, dass sie es uns gestattet haben, nicht nur wissenschaftliche Gemeinschaften zu bilden, sondern auch intellektuelle Traditionen. Weil unser subsymbolisches, transparentesSelbstmodell als zuverlässiger Anker für unser opakes, kognitives Ego fungiert, waren wir in der Lage, zu Denkern von Gedanken zu werden. Wir haben gelernt, auch auf kognitiver Ebene zusammenzuarbeiten. Es ist uns gelungen, gemeinsam abstrakte Entitäten zu konstruieren, die sich durch die Zeit hindurch bewegen und ständig optimiert werden. Wir nennen diese Entitäten »Theorien«.
    Jetzt aber treten wir in ein neues Stadium ein: Jahrhunderte der philosophischen Suche nach einer Theorie des Geistes kulminieren in einem streng empirischen Projekt, das systematisch in kleinen Schritten und auf nachhaltige Weise fortschreitet. Dieser Vorgang ist rekursiv, denn er wird nicht nur unsere Intuitionen und unseren intuitiven Blick auf uns selbst, sondern den Inhalt und die funktionale Struktur unserer Selbstmodelle verändern. Diese Tatsache sagt uns aber allem Anschein nach auch etwas über das physikalische Universum, in dem all diese Ereignisse geschehen: Dieses Universum hat ein Potenzial nicht nur für die Selbstorganisation des Lebens und die Evolution starker Subjektivität, sondern auch für eine noch höhere Ebene von Komplexität. Ich werde bestimmt nicht so weit gehen zu sagen, dass sich das physikalische Universum in uns seiner selbst bewusst wird. Trotzdem ist es so, dass das Erscheinen von kohärenten, bewussten Realitätsmodellen in biologischen Nervensystemen innerhalb des physikalischen Universums eine neue Form von Selbstähnlichkeit erzeugt hat. Die Welt evolvierte Wesen mit Weltmodellen. Teile begannen, das Ganze als Ganzes widerzuspiegeln. In gewisser Weise sind Milliarden von bewussten Gehirnen wie Milliarden von Augen, mit denen das Universum sich selbst als gegenwärtig betrachten kann.
    Wichtiger ist jedoch, dass die Welt Selbstmodellierer evolvierte, die in der Lage waren, Gruppen zu bilden. Daher erhöhten nicht mehr nur einzelne Nervensysteme die Selbstähnlichkeit, indem sie innere Weltmodelle entwarfen, sondern das Gleiche galt nun auch für ganze Gemeinschaften von Wissenschaftlern. Der Vorgang sprang auf eine neue Ebene über. Eine neue Qualität wurde erzeugt, denn diese Gruppen schufen ihrerseits theoretische Porträts des Universums und des Bewusstseins sowie eine systematische Strategie,mit der man diese Porträts kontinuierlich verbessern kann. Durch das Aufkommen der Wissenschaft wurde der dynamische Vorgang des Selbstmodellierens und des Weltmodellierens in die symbolische, soziale und historische Dimension hinein ausgedehnt: Wir wurden zu Konstrukteuren rationaler Theorien. Wir benutzten die Einheit des Bewusstseins, um nach der Einheit des Wissens zu suchen, und wir entdeckten außerdem die Idee der moralischen Integrität. Es war das bewusste Selbstmodell von Homo sapiens , das diesen Schritt möglich gemacht hat.
    Am Ende muss jede überzeugende und wirklich befriedigende Neuroanthropologie auch Tatsachen wie diesen gerecht werden. Sie muss uns sagen, was genau im bewussten Selbstmodell des Menschen diesen hochgradig spezifischen Übergang möglich gemacht hat –
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