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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel
Autoren: Thomas Metzinger
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einen Übergang, der nicht nur für die biologische Geschichte des Bewusstseins auf diesem Planeten entscheidend war, sondern auch das physikalische Universum selbst verändert hat.
Veränderte Bewusstseinszustände
    Es gibt noch einen zweiten positiven Aspekt am neuen Bild des Menschen, der uns vielleicht erlaubt, uns selbst in einem anderen Licht zu sehen. Es ist die unauslotbare Tiefe unseres phänomenalen Zustandsraums. Die mathematische Theorie der neuronalen Netze hat die enorme Anzahl von möglichen neuronalen Konfigurationen in unseren Gehirnen und die unermesslich vielen verschiedenen Arten subjektiven Erlebens enthüllt. Merkwürdigerweise sind sich die meisten von uns des Potenzials und der Tiefe unseres Erlebnisraums in keiner Weise bewusst. Die Menge der möglichen neurophänomenologischen Konfigurationen eines individuellen menschlichen Gehirns, die Zahl der möglichen Tunnel, ist so groß, dass Sie im Verlauf Ihres Lebens nur einen winzigen Bruchteil davon erforschen können. Gleichwohl hat Ihre Individualität, die Einzigartigkeit Ihres ganz eigenen geistigen Lebens, sehr viel damit zu tun, für welchen Pfad durch den phänomenalen Zustandsraum Sie sich entscheiden.Niemand wird jemals wieder dieses bewusste Leben leben. Ihr Ego-Tunnel ist ein absolutes Unikat, etwas, das es nur ein einziges Mal gibt. Insbesondere durch eine naturalistisch-neurowissenschaftliche Perspektive auf den Menschen wird auf einmal offensichtlich, dass uns nicht bloß eine Fülle von phänomenalen Zuständen zur Verfügung steht, sondern dass bald alle Menschen sich dieser Tatsache verstärkt bewusst sein werden und systematisch Gebrauch von ihr machen könnten.
    Natürlich besteht längst eine alte schamanistische Tradition der Erforschung veränderter Bewusstseinszustände. Schon seit Jahrtausenden gibt es eine mehr oder weniger systematische Form der experimentellen Bewusstseinsforschung – durch den Yogi und den Derwisch, durch den Magier, den Mönch und den Mystiker. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen das Potenzial ihres bewussten Geistes erforscht: durch rhythmisches Trommeln und Trancetechniken, durch Fasten und Schlafentzug, durch Meditation und die Kultivierung des Klarträumens oder durch den Gebrauch psychoaktiver Substanzen, von Kräutertees bis hin zu heiligen Pilzen. Das Neue heute ist, dass wir langsam die neuronalen Grundlagen all dieser alternativen Realitäts-Tunnel zu verstehen beginnen. Sobald wir das neuronale Korrelat für eine spezifische Form von Bewusstseinsinhalt entdeckt haben, werden wir, zumindest im Prinzip, auch in der Lage sein, diese Inhalte auf viele neue Weisen zu manipulieren, sie zu verstärken oder zu hemmen, ihre Qualität zu verändern und neue Arten von Inhalt zu erzeugen. Hirnprothesen und die Anfänge der medizinischen Neurotechnologie sind Bespiele für erste Schritte in dieser Richtung.
    Früher oder später werden sich Teile der Neurotechnologie jedoch unweigerlich in Bewusstseinstechnologie verwandeln. Das phänomenale Erleben selbst wird schrittweise technisch verfügbar werden, und wir werden es immer systematischer und wirksamer manipulieren können. Wir werden lernen, wie man mit Hilfe dieser Entdeckungen manche Beschränkungen unseres biologisch evolvierten Ego-Tunnels überwinden kann. Die Tatsache, dass wir die Struktur unseres bewussten Geistes aktiv entwerfen können,ist bisher vernachlässigt worden, wird aber durch die Entwicklung der Neurotechnologie und einer sie (hoffentlich) begleitenden rationalen Neuroanthropologie immer offensichtlicher werden. Die traditionelle Idee, ein autonom Handelnder zu sein und die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können, wird – wenn sie denn haltbar ist – eine vollkommen neue Bedeutung erhalten, sobald sich die Neurotechnologie in eine neuro phänomenologische Technologie hinein entwickelt, in das, was man »Phänotechnologie« nennen könnte.
    Wir sollten auf jeden Fall in der Lage sein, unsere eigene Autonomie weiter zu erhöhen, indem wir das bewusste Gehirn kontrollieren und es in einigen seiner tieferen Dimensionen genauer erforschen. Ich denke, dieser spezielle Aspekt des neuen Menschenbilds ist eine gute Nachricht. Er ist aber auch eine gefährliche Nachricht: Entweder wir finden einen Weg, um mit diesen neuen neurotechnologischen Handlungsmöglichkeiten intelligent und verantwortlich umzugehen, oder wir könnten uns einer ganzen Reihe von historisch beispiellosen Risiken gegenübersehen.
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