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Der dunkle Schirm

Der dunkle Schirm

Titel: Der dunkle Schirm
Autoren: Philip K. Dick
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    Insbesondere mit »Ubik«, einer irrsinnigen Achterbahnfahrt durch Zeit und Raum, durch Vorstellung und Wahn, hatte Dick die Realität so vollständig zertrümmert wie nur möglich – und konsequenterweise wandte er sich nach getaner Arbeit von diesen schwindelerregenden Phantasien ab und näherte sich wieder der Wirklichkeit an: In den nur jeweils knapp zwanzig bis dreißig Jahre vordatierten Romanen »Eine andere Welt« und »Der dunkle Schirm« verarbeitete er unter anderem seine Drogen-Erfahrungen und die politische Lage der USA während der Nixon-Präsidentschaft. Immerhin, und das ist im Zusammenhang mit »Der dunkle Schirm« nicht ganz irrelevant, war Nixon der amerikanische Präsident, der seine politischen Gegner verdrahtete und bespitzelte, beziehungsweise: Er war der Präsident, der seine Widersacher so ungeschickt ausspionierte, dass die Sache aufflog. (Mit Bob Arctors verzweifeltem »Ich bin kein Gauner!« hat Dick sogar ein wörtliches Nixon-Zitat in seinen Text eingebaut.)
    »Eine andere Welt« schildert die USA als Polizeistaat. Eine perfekt eingespielte Repression, gegen die keine Ideologie mehr greift – man kann dem Staat nicht mit einem alternativen Gesellschaftsentwurf widerstehen, für große Visionen ist der Spielraum zu klein geworden. »Wenn der Prozess andauert und wir ein totalitäres Gesellschaftssystem mit einem allmächtigen Staatsapparat bekommen«, so Dick in Vancouver, »wäre folgende Ethik am wichtigsten für das Überleben von wahren, freien Menschen: betrügen, lügen, sich drücken, schwindeln, abwesend sein, gefälschte Papiere besitzen und in der Garage improvisierte Apparate stehen haben, die die von den Herrschenden benutzten Geräte überlisten.« Das ist die Ethik der Donna Hawthorne in »Der dunkle Schirm«: Colaflaschen klauen, leer trinken und das Pfandgeld einstecken, Briefmarkenautomaten plündern und zweckentfremden, den Kapitalismus durch Tauschhandel und Diebstahl unterlaufen. Das Chaos im Kleinen. Die Sabotage im Alltag. Darauf setzt Philip K. Dick seine Hoffnungen für die Zukunft. Erbärmliche Hoffnungen, misst man sie an den hehren Idealen der Bürgerrechtsbewegung.
    In diesem neuen gesellschaftspolitischen Kontext entfaltete eine von Dicks prägendsten Erfahrungen jener Jahre eine besonders traumatisierende Wirkung: Am 17. November 1971 wurde in sein Haus eingebrochen, der Aktenschrank aufgesprengt, Manuskripte und alte Scheckhefte entwendet, aber auch die Stereoanlage. Wer war eingebrochen? Das FBI? Die CIA? Die religiöse Rechte? Die örtliche Polizei verhielt sich Dick gegenüber sehr abschätzig, der Fall wurde nie aufgelöst, die Täter nie gefasst, und die Polizei legte ihm nahe, die Gegend zu verlassen, weil sie nicht für seine Sicherheit garantieren könne. Was hatten die Einbrecher gesucht? Das Manuskript von »Eine andere Welt« (das Dick sicherheitshalber einem Anwalt anvertraut hatte)? Drogen? Der rätselhafte Einbruch ermunterte Dick natürlich zu Spekulationen: Wie in seinen Romanen schloss er auch in seinem Leben keine Möglichkeit aus, er kostete genüsslich alle Varianten aus und begann über die Gründe und Hintergründe dieses mysteriösen Einbruchs zu mutmaßen. Jahrelang. Verfolgten ihn etwa die Black Panthers? Drogendealer? Junkies? Oder doch nur banale Einbrecher? – Das war der Stoff, aus dem Dicks Romane bestanden. Das war der Stoff, der Dick inspirierte. War er vielleicht selber bei sich eingebrochen? Und wenn ja – warum? Und: Warum erinnerte er sich nicht mehr daran? Oder verheimlichte er etwas? – Nicht zu beantworten ist dabei die Frage, ob es der Wahnwitz seiner Fiktionen war, der in sein Leben einbrach, oder ob Dick den Wahnwitz in seinem Leben benötigte, das Gefühl, ständig am Abgrund zu stehen, von feindlichen Menschen und Mächten verfolgt, um seinen Fiktionen ihre existenzielle Dringlichkeit zu verleihen. In dieser Zeit begann Dick mit der Arbeit an »Der dunkle Schirm«, der – das überrascht in diesem Kontext nicht wirklich – zu seinem großen Roman über das Kalifornien der frühen siebziger Jahre wurde. Der amerikanische Traum der sechziger Jahre, der Traum einer schöneren, bunteren und gerechteren Welt war ausgeträumt; die Hoffnungsträger Martin Luther King, Robert Kennedy und Jimi Hendrix waren tot; das Establishment – durch den verlorenen Vietnamkrieg in seiner Ehre verletzt und durch die Bürgerrechtsbewegung erschüttert – schlug zurück; von der Utopie
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