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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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zitternder Hand wischte ich mir über die Augen. Auf meinem Handschuh blieb die dunkle Spur einer Träne zurück.
    Ein leises Schleifen riss mich zurück in die Wirklichkeit. Mein Instinkt reagierte, bevor ich begriff, was mich erschreckt hatte: eine Bewegung am Rand meines Sichtfeldes. Rasch zog ich den Schleier wieder vor das Gesicht. Ich war nicht allein. Ein Sessel an der anderen Seite des Tisches bewegte sich leicht, kaum merklich, aber deutlich genug, dass ich eine Gestalt im Schatten der hohen Lehne erahnen konnte – die Linie einer Schulter und eines Arms. Schwarzer Stoff. Für einen Moment flammte in mir die völlig verrückte Hoffnung auf, dass es Tian war, der dort auf mich wartete, und dass alles nur ein schreckliches Missverständnis gewesen war. Doch dann schwang der Drehsessel mit diesem leisen, metallischen Schleifen, das mich aufgeschreckt hatte, ganz herum.
    Der junge Mann war nicht älter als Tian, und er trug schwarze Kleidung, aber das war auch schon die einzige Ähnlichkeit. Das scharf geschnittene Gesicht mit den hohen Wangenknochen hatte nichts von Tians sanfter Schönheit, es war hager und viel zu ernst. Aquamarinfarbene, umschattete Augen starrten mich an, ohne ein Zwinkern, ohne einen Funken Sympathie. Noch nie hatte ich in der Stadt eine solche Augenfarbe gesehen.
    Er machte keine Anstalten, aufzustehen, lässig lehnte er seitwärts in dem Sessel, ein langes Bein über der Lehne. Er sah nicht aus wie ein Hoher, dafür fehlte ihm unser Glanz, die Schönheit, er wirkte auf eine rohe Weise hart, fast hässlich. Aber er saß im Vorzimmer der Méganes, das kein Niederer jemals betreten durfte. Sogar die einfachsten Wächter hier stammten aus den höheren Familien des zweiten Rings. Und noch etwas war seltsam: Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen und dennoch kam er mir bekannt vor.
    Immer noch musterte er mich. Mir war unbehaglich bei dem Gedanken, dass er mich schon die ganze Zeit über heimlich beobachtet hatte, ohne Schleier, verzweifelt und schwach. Was hatte er gesehen? Nicht viel vermutlich, ich stand im Gegenlicht, trotzdem zupfte ich noch etwas mehr Stoff vor mein Gesicht.
    »Kein Schleier der Welt kann verstecken, was ohnehin schon alle wissen.« Seine Stimme war ein wenig rau und ich hörte nur zu gut die Feindseligkeit darin.
    »Wartest du auch auf eine Audienz?« Ich versuchte, etwas Klang in meine erloschene Stimme zu legen.
    Sein linker Mundwinkel zuckte zu einem sarkastischen Lächeln hoch.
    »Audienz? Ja, vermutlich schon, wenn auch aus einem anderen Grund als du, einsame Braut.«
    Er wusste also genau, wer ich war. Möglicherweise bedeutete das nichts. Vielleicht aber auch alles.
    »Kennen wir uns?«, fragte ich so sachlich wie möglich.
    Obwohl die Sonne in den Raum schien, hatte ich das Gefühl, dass es dort, wo er saß, dunkler war – und kälter. »Ich kenne dich «, antwortete er. »Deine Karriere als zukünftige Mégana endet, bevor sie begonnen hat. Muss wehtun, Stadtprinzessin!« Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Bisher war es nur eine Ahnung gewesen, jetzt wusste ich, der Fremde hier war mein Feind.
    »Zu welcher Familie gehörst du?«, sagte ich mit aller Schärfe, die ich aufbringen konnte. »Wem bist du versprochen?«
    Er gab keine Antwort, sondern erhob sich so schnell und geschmeidig aus dem Sessel, dass ich zusammenzuckte. Er kam einfach auf mich zu, ohne die Grenzen des Respekts zu wahren – viel zu nah! Direkt vor mir blieb er stehen, so nah, dass ich wie eine Maus in der Falle saß, den Rücken an das Glas gedrückt, vor mir ein Fremder, dessen Augen kaltes Glas waren. Er roch nach heißem Wüstenwind, nach Weite und ein wenig nach der Asche von Jagdfeuern. Die Härchen an meinem Nacken stellten sich auf, ich konnte die Gefahr fast sehen, wie Hitzewellen, die die Luft flirren ließen.
    »Du willst wirklich wissen, wem ich versprochen bin?«, fragte er leise. »Schwester Tod! Die Schönheit mit der gläsernen Haut und dem roten Haar, die uns immer einholt, wohin wir auch fliehen. Sie besucht mich jede Nacht und versucht mich im Traum zu einem Kuss zu verführen. Und jede Nacht gebe ich ihr beinahe nach. Aber nur beinahe.«
    Ich glitt am Glas entlang zur Seite und brachte drei große Schritte zwischen mich und ihn. »Wag es nicht, mir noch einmal so nahe zu kommen!«
    Es musste wohl doch noch genügend von meiner Autorität übrig sein, denn der Fremde blieb stehen. Lauernd, feindselig, mit diesem harten Blick, und ich mit einem heißen Knoten in der Kehle,
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