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Der dunkle Grenzbezirk

Der dunkle Grenzbezirk

Titel: Der dunkle Grenzbezirk
Autoren: Eric Ambler
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in London und benützte die Gelegenheit, um Nachforschungen über Professor Barstow anzustellen. In seinem Haus in Wimbledon erfuhr ich, daß er in einem Sanatorium in Brighton sei. Ich bestieg den nächsten Zug nach Brighton.
    Die Oberschwester des Sanatoriums war sehr höflich, sagte mir aber in festem Ton, daß Herr Professor Barstow keine Besuche empfangen dürfe. Ich fragte nach dem behandelnden Arzt. Er war nicht im Haus, würde aber in etwa zwei Stunden wieder kommen. Ich wartete drei Stunden lang.
    Der Doktor schaute mich mißtrauisch an, als er hörte, was ich wollte. Es war ganz klar, daß er Amerikaner nicht mochte.
    »Warum wollen Sie Professor Barstow unbedingt sehen?« fragte er. »Sind Sie ein Verwandter von ihm?«
    Ich hatte meine Ausrede parat.
    »Nein, aber ich habe die Notiz von seinem seltsamen Verschwinden gelesen, und als ich vor ein paar Tagen zufällig ein Bild von ihm in der Zeitung sah, erkannte ich in ihm einen Mann wieder, den ich im Mai dieses Jahres in einem Zürcher Hotel kennengelernt habe. Ich möchte mich nur überzeugen, ob er derselbe Mann ist.«
    Er schaute jetzt weniger mißtrauisch drein.
    »Das ist natürlich etwas anderes. Wir sind sehr daran interessiert, Näheres über den Aufenthaltsort des Professors während seiner noch nicht lange zurückliegenden bedauerlichen … äh … Erkrankung zu erfahren. Sehr interessiert besonders im Hinblick auf gewisse …« Ein vielsagendes Schweigen folgte. Dann drückte er auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster, bis die Oberschwester erschien.
    »Ist Professor Barstow wach?« fragte er.
    »Nein, Herr Doktor, er schläft.«
    Er wandte sich jetzt wieder zu mir. »Wenn wir ruhig sind, werden wir ihn nicht stören.«
    »Wenn ich Ihre Andeutungen richtig verstanden habe, leidet Professor Barstow an Gedächtnisverlust?«
    »In einem gewissen Sinn … äh … ist das richtig.«
    »Dann kann er sich also an nichts erinnern, was er im Mai erlebt hat?«
    »Äh … nein … aber … vielleicht …« Er stand auf.
    Er ging voran, die Oberschwester hinterher, ich folgte. Wir gingen durch Korridore mit Linoleumböden zu einem Zimmer am anderen Ende des Sanatoriums. Alles war sehr sauber. Leise machte der Doktor die Türe auf.
    Es war am späten Nachmittag, und die Herbstsonne, die eben unterging, schien durch die Jalousiestäbe. Ich trat auf Zehenspitzen ins Krankenzimmer.
    Der Mann im Bett lag auf dem Rücken, und seine Finger hielten das Bettlaken vor seiner Brust. Ich sah sein Gesicht, das leicht zur Seite geneigt war, ich sah das durch das Kissen etwas in Unordnung gebrachte Haar mit den grauen Strähnen. Dann schaute ich auf die langen, schmalen Finger, die ich so oft gesehen hatte, wie sie geschickt Tabak in eine alte Pfeife stopften, und jener Augenblick kam mir wieder in den Sinn, wo dieselbe Hand eine schwere deutsche Automatic umklammert hatte, die auf seinen Kopf gerichtet war, der jetzt friedlich auf einem sauberen weißen Kissen lag.
    Der Mann im Bett hustete einmal im Schlaf und drehte sich dann zur Seite. Die Finger verschwanden unter der Decke. Der Doktor winkte mich zur Tür.
    »Nun?« fragte er, als wir draußen waren.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht derselbe Mann.«
    Er seufzte. »Ein merkwürdiger Fall«, kommentierte er, als wir die Treppe hinunter gingen.
    Ich stimmte ihm zu.
    Der Strand war fast leer, als ich zur Bushaltestelle zurückging. Die untergehende Sonne spiegelte sich rot im Wasser. Dahinter blinkte im Nebel, der vom Meer aufstieg, ein Licht. Die Brandung zischte sanft über die Kiesel. Ein frischer Wind wehte landeinwärts, und als ich weiterging, schlug ich den Mantelkragen hoch. Es war schon kühl für diese Jahreszeit.

Epilog
    Solche Fälle von Persönlichkeitsspaltung kommen auch in Wirklichkeit vor. C. G. Jung beschreibt in den Schriften über Analytische Psychologie den Fall einer jungen Deutschen, die unter periodischer Amnesie litt. In dieser Zeit des Gedächtnisverlustes war sie eine ganz andere Persönlichkeit.
    Die junge Frau war ungebildet und nicht sehr intelligent. Die zweite Persönlichkeit indessen sprach fließend das Englisch der Gebildeten und nur gebrochen Deutsch. Die erste Persönlichkeit der jungen Frau hatte nie Englisch gelernt, ja es fehlten ihr jegliche Elementarkenntnisse dieser Sprache. Die Erklärung war sehr merkwürdig.
    Die junge Frau hatte einige Zeit vor dem ersten Auftreten der Amnesie bei Verwandten gelebt, in deren Haus ein englischer
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