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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss
Autoren: John Hart
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dachte an meinen Vater. Ich fragte mich, was von uns noch übrig sein mochte, und dann machte ich mich auf die Suche nach ihm. Sein Arbeitszimmer war leer und unverändert: Kiefernholzdielen, ein überquellender Schreibtisch, hohe Bücherregale und Stapel von Büchern auf dem Boden davor, lehmige Stiefel an der Hintertür, Bilder von längst gestorbenen Jagdhunden, Schrotflinten neben dem gemauerten Kamin, Jacken an Haken, Mützen, ein Foto von uns beiden, vor neunzehn Jahren aufgenommen, ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter.
    In den Monaten seit der Beerdigung hatte ich zehn Kilo abgenommen. Ich hatte kaum gesprochen, kaum geschlafen, und er hatte entschieden, genug sei genug, und es sei an der Zeit, nach vorn zu blicken. Einfach so. Lass uns etwas unternehmen, hatte er gesagt. Lass uns aus dem Haus gehen. Ich blickte nicht einmal auf. Herrgott noch mal, Adam ...
    An einem strahlenden Herbsttag nahm er mich mit auf die Jagd. Ein hoher, blauer Himmel, und das Laub war noch grün. Der Hirsch kam in der ersten Stunde, ein Hirsch, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sein Fell leuchtete fahlweiß unter einem Geweih, das breit genug war, um einen ausgewachsenen Mann zu tragen. Er war massig, präsentierte sich mit erhobenem Kopf fünfzig Schritte weit vor uns. Er starrte zu uns herüber, dann scharrte er mit den Hufen, als sei er ungeduldig.
    Er war vollkommen.
    Aber mein Vater wollte nicht schießen. Er ließ das Gewehr sinken, und ich sah, dass er Tränen in den Augen hatte. Er flüsterte mir zu, es habe sich etwas geändert. Er könne es nicht. Ein weißer Hirsch ist ein Zeichen, sagte er, und da wusste ich, dass er von meiner Mutter sprach. Aber auch ich hatte das Tier im Visier. Ich biss die Zähne zusammen, atmete halb aus und fühlte den Blick meines Vaters. Er schüttelte einmal den Kopf und flüsterte: Nein!
    Ich schoss.
    Und traf nicht.
    Mein Vater nahm mir das Gewehr aus der Hand und legte mir den Arm um die Schultern. Er drückte mich fest, und wir blieben lange so sitzen. Er glaubte, ich hätte im letzten Moment absichtlich daneben geschossen; auch ich sei in letzter Sekunde zu der Überzeugung gekommen, das Leben sei irgendwie kostbarer geworden, und der Tod meiner Mutter habe die gleiche Wirkung auf uns beide gehabt.
    Aber das war es nicht. Nicht einmal annähernd.
    Ich hatte den Hirsch verletzen wollen. Ich hatte es so sehr gewollt, dass meine Hände zitterten. Deshalb war der Schuss danebengegangen. Noch einmal betrachtete ich das Foto. An dem Tag, als es aufgenommen wurde, war ich neun Jahre alt gewesen, und meine Mutter war gerade erst unter die Erde gekommen. Mein Alter Herr hatte geglaubt, wir hätten die Kurve gekriegt, jener Tag im Wald sei der erste Schritt gewesen, ein Zeichen dafür, dass die Wunde verheilte. Aber ich wusste nichts von Zeichen oder Verzeihung. Ich wusste kaum, wer ich war.
    Ich stellte das Foto wieder ins Regal und rückte es zurecht. Er hatte geglaubt, dieser Tag sei ein neuer Anfang für uns gewesen, und hatte das Foto all die Jahre hindurch behalten, ohne je zu ahnen, dass es nur eine große, eine gigantische Lüge war.
    Ich hatte gedacht, ich sei bereit, wieder nach Hause zu kommen, aber jetzt war ich nicht mehr sicher. Mein Vater war nicht da. Hier war gar nichts für mich. Doch als ich mich umdrehte, sah ich das Blatt auf seinem Schreibtisch, feinstes Briefpapier neben dem teuren burgunderroten Füller, den meine Mutter ihm einmal geschenkt hatte. »Lieber Adam«, stand da. Weiter nichts. Leere. Wie lange hatte er auf das weiße Papier gestarrt, fragte ich mich, und was hätte er geschrieben, wenn die Worte doch noch aus der Feder geflossen wären?
    Ich verließ das Zimmer, wie ich es vorgefunden hatte, und kehrte in den Hauptteil des Hauses zurück. Neue Bilder schmückten die Wände, darunter ein Porträt meiner Adoptivschwester. Sie war achtzehn gewesen, als ich sie zuletzt gesehen hatte, eine zierliche junge Frau, die jeden Tag im Gerichtssaal gesessen, aber mir nicht in die Augen hatte schauen können. Sie war meine Schwester, und seit dem Tag, als ich weggegangen war, hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen, aber das konnte ich ihr nicht verdenken. Es war meine Schuld ebenso wie ihre. Eher meine, eigentlich.
    Sie würde jetzt dreiundzwanzig sein, eine erwachsene Frau, und noch einmal betrachtete ich das Porträt: das entspannte Lächeln, das Selbstvertrauen. Es konnte geschehen, dachte ich. Vielleicht.
    Miriams Bild ließ mich an Jamie denken, ihren
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