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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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deiner Sachen hier. Als Anker, an dem du dich festhalten kannst.«
    Der Gesang auf der Kassette wird immer lauter, und als ich zu Gigi hinübersehe, weint sie leise, Tränen fallen auf den Boden. Auch ich muss weinen.
    »Ich habe dich geliebt, Mama. Ich bin deine Tochter, und du wirst immer in mir sein, bei mir, wo immer ich auch hingehe. Ich vergebe dir, und ich hoffe, du vergibst mir auch.«
    Während die Musik schnarrend und knacksend und holprig durch das Küchenfenster dringt, übersetze ich im Kopf den Text, schließe für einen Moment die Augen, sodass alles dunkel wird und hinter meinen Augenlidern verschwindet und nur mein Atem übrig bleibt. Dann öffne ich sie wieder und hebe die Plastiktüte auf, um Mamas bescheidene letzte Habe in die Erde fallen zu lassen. Zuerst kommt ein Buch mit weiß-rotem Umschlag, vielleicht das letzte, das sie gelesen hat. Gedichte für jeden Tag. Die Seiten haben Eselsohren und sind eingerissen, und über den Rücken verläuft ein Teefleck wie eine Narbe. Als Nächstes fällt ihr Pullover in das Loch, gefolgt von einer Kette mit violetten Perlen. Ich erinnere mich, wie sie Jazz gesungen hat und durch das Haus getanzt ist und diese Perlen dabei um ihren Hals gehüpft sind. Dann eine Haarbürste und eine Socke. Sie ist grau und dick genug, dass der Londoner Winter ihren Zehen nichts anhaben konnte. Schließlich segelt ein Briefumschlag auf den kleinen Haufen hinunter. »Gracie« steht in gewundenen Buchstaben darauf. Ich fische ihn wieder heraus und stecke ihn in die Tasche. Er ist alles, was noch geblieben ist, und ich werde ihn behalten. Den Brief und Edith, die noch immer singt. Non, je ne regrette rien , trällert sie.
    Schließlich gibt Pete mir den Schuhkarton, und ich löse die Schleife. Meine eigenen Briefe flattern in das Loch, weiß wie Taubenflügel. Ruhe in Frieden, Mama.
    Pete hält mich fest, während ich weine. Ich frage mich, wer ich ohne die Schuld und die Trauer sein werde, die diese ganzen Jahre über so schwer auf mir lasteten. Ich vermisse Mama.
    Wieder verspüre ich diese Leichtigkeit, die mir von irgendwoher zufliegt, als würde ich von oben an einem Faden hochgezogen. Der Wind fährt mir mit den Fingern durchs Haar, und als ich aufblicke, haben sich die Wolken geteilt. Zwischen den Gebäuden über uns hat sich ein Streifen blauen Himmels aufgetan. Pete hebt den Kopf. Er sieht es auch. Gigi geht wieder in die Küche. Wir hören, wie sie die Kassette zurückspult und wieder auf Play drückt. Miss Piaf legt los. Ich stelle mir vor, wie die englische Übersetzung wie ein Untertitel vor diesem Renaissancegemälde-Himmel vorbeizieht. Sie singt davon, nichts zu bereuen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und von einem Samen, der gesät wird, dem Beginn von etwas Neuem. Die Piaf verrät nicht, was es ist, aber ich weiß es. Hoffnung.
    Pete drückt mir einen Kuss auf die Stirn und lässt mich los. Ich nehme den Spaten und schaufle das kleine Grab zu. Nach der letzten Schippe ist eine kleine Erhebung im Boden zu sehen. Ich führe die Finger an die Lippen, dann drücke ich sie auf die lose Erde.
    »Auf Wiedersehen, Mama. Je ne regrette rien .«
    Am späteren Abend, als der Tag zu Ende geht und das Café geschlossen hat, bin ich von vielen Frauen umgeben. Es ist so etwas wie ein Leichenschmaus. Mama hätte es gefallen. Tratschende Frauen, Süßigkeiten und Gelächter. Der Vollmond steht am dämmrigen Himmel; wir sitzen bei Kerzenschein zusammen und betrachten die leuchtenden Sterne. Wir haben Macarons gegessen und Kuchen, Tee getrunken und Geschichten erzählt. Marjory hat ihre Finger in Gigis Haar und dreht es wie Brotteig zu einem Zopf. Rilla gießt Yok Lan Tee ein. Faith schläft. Ihre Gesichter leuchten golden in dem flackernden Licht.
    »Deine Haare werden immer länger, Gi«, Marjory lächelt.
    »Ich habe sie nicht schneiden lassen. Im Moment ist mir das ziemlich egal. Es kann so lang werden, wie es will.« Sie zuckt mit den Schultern.
    »Du darfst es nicht vor dem chinesischen Neujahrsfest schneiden lassen, stimmt’s?«, fragt Rilla, während Yok Lan dankbar ihre Hand tätschelt. Die alte Frau setzt die dampfende Tasse an die Lippen und nippt an ihrem Tee.
    »Ja. So in der Art. Da muss ich Pau Pau fragen, sie kennt sich mit den alten Traditionen aus. Ich weiß, dass es Glück bringt, rote Unterwäsche zu tragen.«
    Marjory sichert das Ende von Gigis Zopf mit einem Haargummi. »Wow!«, sagt sie. »Das gefällt mir. Mal sehen, ob ich nicht irgendwo noch
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