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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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sich einfach ins Unbekannte stürzen. Eines sollte man jedenfalls niemals tun: zögern. Den Deckel draufzusetzen ist eine Sache des Vertrauens. Wie wenn man aus einem Fenster springt – zwölf Stunden nach einer Blinddarmoperation zum Beispiel – und darauf vertraut, dass man auf seinen Füßen landen wird.
    Nachdem der Artikel erschienen war, wurde ich zu einer Kochsendung im Vormittagsprogramm eines Fernsehsenders in Syracuse eingeladen, um meinen Umgang mit dem Teig vorzuführen. Außerdem bekam ich erstaunlich viele Briefe von Lesern der Zeitschrift und Leuten, die sich die Kochsendung angeschaut hatten, in denen man mir Fragen zum Pie-Teig stellte. Es schien ein unerschöpfliches Thema zu sein. Ich kenne kein anderes Gericht, das mit größerer
Emotionalität – Leidenschaft geradezu – behandelt wird wie der Pie, dieses bescheidenste aller Desserts.
    Wie Frank mir damals schon gesagt hatte, gab es die heftigsten Kontroversen über die Frage des Backfetts. Eine Frau, die in der Zeitschrift gelesen hatte, dass ich eine Mischung aus Butter und Schmalz benutzte, ließ sich in einem Brief über die Verwerflichkeit von Schmalz aus. Eine andere Frau reagierte nicht minder empört auf die Verwendung von Butter.
    Unterdessen wurde das Restaurant, Molly’s Table, immer erfolgreicher. Amelia und ich begannen für ein eigenes Haus zu sparen, und in unserem Miethäuschen konnte ich endlich Doppelfenster einsetzen. Die Besitzerin des Restaurants, Molly, beauftragte mich, nebenan eine Konditorei zu eröffnen. Dort beschäftigte ich fünf Konditoren, die allesamt nach Franks Grundrezept Pies buken.
    Etwa ein Jahr nach Erscheinen des Artikels in der Zeitschrift bekam ich einen Brief aus Idaho mit einem mir unbekannten Poststempel. Die Anschrift auf dem Umschlag war mit Bleistift geschrieben worden, und als Absender war kein Name angegeben, sondern eine lange Nummer.
    Als ich den Umschlag öffnete, hielt ich ein liniertes Blatt Papier in der Hand, beschrieben mit sehr präzisen, aber kleinen Buchstaben, als habe der Verfasser Papier sparen müssen – was vermutlich auch zutraf.
    Ich musste mich setzen. Bis zu diesem Augenblick war ich völlig ahnungslos gewesen, aber jetzt kam alles zurück, wie ein kalter Windstoß, wenn man während eines Schneesturms die Tür öffnet. Oder wie die heiße Luft aus dem
Ofen, wenn man die Klappe aufmacht, um nach dem – was sonst? – Pie zu schauen.
    Obwohl beinahe zwei Jahrzehnte vergangen waren, sah ich sein Gesicht noch vor mir, so wie es damals war, als ich ihn kennengelernt hatte beim Zeitschriftenstand im Pricemart: sein knochiges Kinn, die hohlen Wangen, der direkte Blick aus den blauen Augen. Für einen Jungen meines Alters – der zu gerne wissen wollte, was es in der eingeschweißten Ausgabe des Playboy vom September 1987 zu sehen gab, sich aber mit einem Rätselbuch begnügen musste – hätte dieser Mann durchaus furchterregend wirken können. Er ragte über mir auf, hatte diese großen Hände und diese unglaublich tiefe Stimme. Aber vom ersten Augenblick an hatte ich das Gefühl gehabt, diesem Mann vertrauen zu können, und selbst als ich wütend und ängstlich war, weil ich fürchtete, dass er mir meine Mutter wegnehmen und ich alleine zurückbleiben würde, hatte ich ihn noch immer für einen gerechten und anständigen Menschen gehalten.
    Neunzehn Jahre lang hatte ich nichts von dem Mann gehört, und als ich das Blatt Papier entfaltete, hatte ich dasselbe Gefühl wie damals, als wir an jenem Tag im Auto meiner Mutter vom Pricemart nach Hause fuhren und Frank auf dem Rücksitz saß. Das Gefühl, dass mein Leben sich verändern würde. Dass die Welt bald eine andere sein würde. Beim ersten Mal hatte mir das Gefühl gefallen. Doch jetzt erfüllte es mich mit Schrecken.
    An der Theke in meiner Restaurant-Küche, umgeben von Schalen und Messern, meinem Viking-Herd, meinem
Schneidebrett aus Eichenholz, hörte ich seine dunkle Stimme.
    Lieber Henry,
ich hofe, du erinnerst dich noch an mich. Obwohl es vielleicht besser für uns alle wäre, wenn du alles vergessen hättest. Wir haben das Labor-Day-Wochenende zusammen verbracht, vor vielen Jahren. Sechs Tage, die zu den besten meines Lebens gehören.
    Manchmal würden dem Gefängnis, in dem er gegenwärtig inhaftiert war, alte Zeitschriften gespendet, schrieb er. Auf diese Art hatte er meinen Artikel über Pies entdeckt. Zuallererst wolle er mir zu meiner Meisterprüfung als Koch gratulieren. Er hätte auch immer gerne gekocht,
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