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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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großen Frauenüberschusses beim Unterricht die Männerrolle übernehmen mussten. Meine Mutter erwies sich als großartige Lehrerin, und ein weiterer Vorteil des Altenheims war, dass man da so gut wie nie Babys zu Gesicht bekam.
    Meine Mutter war so beliebt bei ihren Schülern, dass man binnen kurzem das gesamte Freizeitprogramm des Heims in ihre Hände legte. Sie organisierte Bastel- und Spielabende und manchmal auch eine völlig verrückte Schnitzeljagdvariante, an der sogar die alten Knaben im Rollstuhl teilnehmen
konnten. Die Arbeit mit den alten Menschen schien meine Mutter wieder jünger zu machen. Wenn ich ihr dabei zuschaute, wie sie – schlank wie eh und je – eine Walzerdrehung oder eine kokette Bewegung beim Lindy Hop vorführte, sah ich manchmal für einen kurzen Moment diesen Gesichtsausdruck, den ich auch in jenen Tagen bei ihr bemerkt hatte, als ich noch dreizehn Jahre alt war. An dem langen Labor-Day-Wochenende, an dem Frank Chambers zu uns kam.

22
    Achtzehn Jahre vergingen. Ich war nun einunddreißig Jahre alt – meine Haare wurden schon dünner – und lebte im Bundesstaat New York. Damals wie heute mit meiner Freundin Amelia, der Frau, die ich in diesem Jahr heiraten wollte. Wir hatten ein kleines Haus mit Blick auf den Hudson gemietet. Es war nicht sonderlich gut isoliert, und wenn im Winter manchmal der eisige Wind vom Fluss herüberwehte, wurde uns nur warm, wenn wir uns vor dem Kamin unter einer Decke aneinanderkuschelten. Und das sei völlig richtig so, meinte Amelia. Wenn man jemandem nicht wirklich nah sein wollte, weshalb sollte man dann überhaupt mit ihm zusammen sein?
    Es war eine glückliche Zeit. Amelia unterrichtete in der Vorschule und spielte in einer kleinen Bluegrass-Band Banjo, deren Bassist – erstaunlicherweise – mein Stiefbruder Richard war. Vor vier Jahren hatte ich meine Ausbildung als Koch abgeschlossen und arbeitete nun in einer Kleinstadt in der Nähe als Konditor in einem Restaurant, das gerade zunehmend Beachtung fand. Die Hochzeit war für den Sommer in New Hampshire geplant – nur mit unserer Familie und einer Handvoll Freunde.
    Im Sommer davor hatte eine Reporterin von einem teuren
Hochglanz-Gourmet-Magazin, das sich nur Leute leisten können, die sowieso keine Zeit zum Kochen haben, dem Restaurant einen Besuch abgestattet. Die Zeitschrift schien sich auf Feste spezialisiert zu haben, die in üppigen Obstgärten, auf Inseln in Maine oder an Seen in Montana stattfanden, wo die Gastgeber die Fische selbst angelten und dann wundersamerweise zehn große schlanke attraktive, enorm coole Freunde direkt in der Nähe wohnen hatten, die spontan zu Besuch kamen und mit ihnen an einem rustikalen Tisch den Fang verspeisten.
    Man wollte schöne Bilder hochwertiger Lebensmittel zeigen, die von Öko-Bauernhöfen stammten, oder Gerichte, die von Urgroßmüttern – die ohnehin keiner mehr gekannt hatte – auf alten gusseisernen Herden zubereitet worden waren. Dabei schienen die Leute auf den Fotos allerdings mit einem derartigen Lebensstil wenig am Hut zu haben.
    Diese Reporterin hatte von meinem Restaurant gehört und interviewte mich. Sie wollte ein Rezept von uns vorstellen – mit einem ganzseitigen Foto – und entschied sich für meinen Himbeer-Pfirsich-Pie.
    Einige Zutaten zu diesem Pie waren meine Erfindung, wie zum Beispiel der kandierte Ingwer in der Füllung und die frischen Himbeeren. Aber der Teig entsprach genau Franks Rezept. Oder, wie ich im Interview erklärte, dem Rezept von Franks Großmutter. Und wie sie benutzte ich als Bindemittel auch Maniokstärke anstelle von Maisstärke.
    Dem Nouveau Gourmet gegenüber äußerte ich mich allerdings nicht zu den genauen Umständen, unter denen ich
das Pie-Backen gelernt hatte. Ich sagte lediglich, ich habe es von einem Freund gelernt, der es sich wiederum bei seiner Großmutter auf der Farm abgeguckt hatte, auf der er aufgewachsen war. Und ich sei dreizehn gewesen, als ich das Pie-Backen lernte. Durch Zufall hätten wir einen Eimer voller frischer Pfirsiche zur Hand gehabt. Und eine besondere Herausforderung sei das Pie-Backen bei extremer Hitze gewesen.
    Es ist wichtig, seine Zutaten gut zu kühlen, sagte ich.
    Es ist immer einfacher, noch Wasser zuzugeben, als es rauszunehmen. Den Teig sollte man nicht zu stark kneten.
    Dieses ganze teure Zubehör aus Katalogen braucht man nicht, sagte ich. Der Handballen ist das perfekte Werkzeug, um Teig zusammenzufügen.
    Und was das Aufsetzen des Deckels angeht: Hier muss man
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