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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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ziemlich kalt. So kalt, dass ich nicht nur meinen Atem sehen konnte, sondern auch den von einer Person, die mit einem winzigen Hund – kaum größer als ein Staubwedel oder der allerkleinste Pudel – an der Leine die Treppe des Apartmenthauses herunterkam.
    Noch bevor ich ihr Gesicht erkennen konnte, war mir klar, dass ich diese Gestalt von irgendwoher kannte; aber woher? Ich sah nur knochige Knie unter einem weiten schwarzen Mantel und hochhackige Stiefel, wie sie in unserer Stadt eigentlich niemand trägt.
    Die Frau schien den Hund entweder noch nicht oft ausgeführt zu haben, oder aber der Hund stellte sich über die Maßen dumm an. Er verhedderte sich ständig, schlang die Leine um die Beine seiner Begleiterin, hopste hoch oder lief
kopflos hin und her. Im einen Moment zerrte er an der Leine, dann ließ er locker oder setzte sich reglos hin.
    Bei Fuß, Jim, sagte die Frau.
    Das war etwa so wirkungsvoll, wie wenn ich zu meiner Mutter gesagt hätte: Du solltest öfter mal rausgehen. Neue Leute kennenlernen. Ausflüge machen. Der Hund jedenfalls führte sich nach diesem Befehl noch idiotischer auf als vorher. Offenbar biss er die Frau ins Bein, denn sie ließ die Leine los, und der Hund schoss jetzt den Gehweg entlang – Jim? Wer nennt seinen Hund denn Jim? – und näherte sich der Ecke, um die gerade ein Laster bog.
    Ich bückte mich, um ihn festzuhalten, und irgendwie gelang es mir auch. Die Hundebesitzerin kam jetzt mit unsicheren Schritten auf mich zugestöckelt. An ihrem Arm hing eine riesige Handtasche. Ihr breiter Hut mit Feder war ihr vom Kopf gerutscht, und nun konnte ich auch ihr Gesicht erkennen. Die Person, die da mit schwankenden Schritten auf mich zukam, war Eleanor.
    In den ersten Wochen nach dem Labor Day, als meine ganze Welt von Grund auf erschüttert worden war, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Die Wut, die ich empfand, richtete sich nur gegen mich selbst. Ich blieb auch später wütend auf mich – doch es fiel mir noch jemand anders ein, auf den ich wütend sein konnte, und das war Eleanor.
    Ich hatte sie seit jenem Tag, als wir uns am Spielplatz getroffen hatten und sie sich auf mich gelegt hatte, nicht mehr gesehen. Sie war in diesem Schuljahr nicht auf meiner Schule, und da keiner sie kannte, konnte ich auch niemanden nach ihr fragen, selbst wenn ich das gewollt hätte.
Ich dachte mir, dass sie vermutlich wieder nach Chicago zurückgegangen war und jetzt dort für Stress sorgte. Inzwischen hatte sie bestimmt auch jemanden gefunden, mit dem sie Sex haben konnte. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass sie unter keinen Umständen mehr Jungfrau bleiben wollte.

    Wahrscheinlich hätte sie nur ihren Hut aufgehoben und mich nicht beachtet, wenn ich nicht ihren Hund im Arm gehabt hätte. Ich drückte ihn an die Brust, und sogar durch meine Jacke spürte ich, wie schnell sein Herz schlug – wie früher bei meinem Hamster Joe.
    Das ist mein Hund, sagte sie und griff nach ihm wie jemand, der beim Einkaufen sein Wechselgeld zurückbekommt.
    Ich habe ihn als Geisel genommen, sagte ich. Normalerweise hätte ich niemals so eine Bemerkung gemacht, aber sie rutschte mir einfach so heraus.
    Was soll das?, entgegnete sie. Der Hund gehört mir.
    Du hast Frank an die Polizei verraten, sagte ich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich das noch nicht einmal vor mir selbst zugegeben, aber nun war ich mir plötzlich ganz sicher.
    Du hast das Leben von zwei Menschen zerstört, fügte ich hinzu.
    Gib mir meinen Hund zurück, sagte sie.
    Ja, klar, versetzte ich. Wo ich jetzt schon mal losgelegt hatte, kam ich richtig in Fahrt. Ich hätte bei Magnum auftreten können oder so. Wie viel ist er dir wert?, fragte ich.
    Wenn du es genau wissen willst: Jim ist ein reinrassiger
Shih-Tzu, sagte sie. Er hat vierhundertfünfundzwanzig Dollar gekostet, ohne die ganzen Impfungen. Aber das ist nicht der Punkt. Er gehört mir.
    Bis zu diesem Augenblick hatte ich immer nur daran gedacht, wie wütend sie auf mich gewesen war, weil ich damals bei der Schaukel, als sie ihr Höschen auszog, keinen Sex mit ihr haben wollte. Ich war so naiv, dass ich die Sache mit der Belohnung nicht mal in Erwägung gezogen hatte. Aber als sie jetzt – ein oder zwei Jahre später – über ihren teuren Hund redete, dem ich gerade das Leben gerettet hatte, wurde mir alles klar.
    Ich schätze mal, jemand, der zehntausend Dollar eingestrichen hat, weil er die Mutter von jemand anderem verraten hat, kann gut auf ein paar hundert Dollar für ein
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