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Der dritte Mond

Der dritte Mond

Titel: Der dritte Mond
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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würde, und tat, was Gurk ihr gesagt hatte: Sie drückte zweimal rasch hintereinander auf die beiden winzigen Erhebungen. Ein helles Zischen erklang, als herrschte im Inneren des Anzugs ein anderer Luftdruck als draußen, dann verwandelte sich der scheinbar massive Helm in eine dünne Folie, die sich nach hinten zusammenfaltete. Als Charity ins Innere des Anzuges blickte, begriff sie schlagartig, wie Gurks letzte Bemerkung gemeint war. Aber da war es zu spät. Nachdem Charitys Magen sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, trat Gurk mit kleinen, trippelnden Schritten näher und grinste sie so voller unverhohlener Schadenfreude an, daß sie ihm am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte, wäre sie nicht viel zu schwach dazu gewesen. »Ich habe dich gewarnt«, sagte er. Charity starrte ihn böse an, ersparte sich aber jede Antwort, sondern drehte sich herum und zwang sich mit aller Macht, noch einmal in den offenstehenden Kampfanzug des Fremden zu sehen. Ihr Magen begann sofort wieder zu revoltieren. Sie hatte Schlimmes erwartet, so wie die beiden Fremden zusammengesackt waren, doch in dem Anzug befand sich nichts mehr, was einem menschlichen Körper auch nur annähernd ähnelte. Genaugenommen war es überhaupt kein Körper, sondern ein rotbrauner, brodelnder Brei, als hätte sich der Träger des Anzugs regelrecht verflüssigt. Schaudernd trat Charity einen halben Schritt zurück und betrachtete die erbeutete Waffe der Fremden, die sie noch immer in der Hand hielt. »Großer Gott«, murmelte sie. »Was, um alles in der Welt, ist das?« Gurk schüttelte den Kopf. »Dein Gott hat damit relativ wenig zu tun«, sagte er. »Und diese Waffe übrigens auch nicht – auch wenn jemand, der davon getroffen wird, wahrscheinlich auch keinen besonders angenehmen Anblick bietet. Aber das da hat nichts damit zu tun.« »Wie… meinst du das?« fragte Charity stockend. Sie mußte immer schlucken, um die bittere Galle loszuwerden, die sich unter ihrer Zunge sammelte. Es war nicht nur der schreckliche Anblick: Aus dem offenstehenden Helmausschnitt des Anzugs drang ein übelkeitserregender Geruch, der immer schlimmer wurde und ihr schier den Magen umdrehte. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, wich sie zwei, drei Schritte die Treppe hinauf von den beiden Toten zurück. Gurk folgte ihr. »Es sind die Anzüge«, sagte er. »Die Anzüge?«  »Ein eingebauter Selbstzerstörungsmechanismus«, erklärte Gurk. »Diese Herrschaften schätzen es nicht besonders, in Gefangenschaft zu geraten. Sobald jemand den Anzug öffnet, der nicht dazu berechtigt ist…« Es dauerte einen Moment, bis Charity wirklich begriff, was Gurks Worte bedeuteten. Und noch länger, bis sie es glaubte.  »Moment mal«, sagte sie. »Du meinst, das da… passiert, sobald man die Anzüge öffnet?«  »Keine Gefangenen«, antwortete Gurk. Er grinste jetzt nicht mehr, sondern sah Charity auf eine Art und Weise an, die sie schaudern ließ. »Das funktioniert auch anders herum, weißt du?« Gurk schüttelte den Kopf, dann zwang er sich zu einem – allerdings nicht sehr überzeugenden – neuerlichen Grinsen und fuhr fort: »Und jetzt sollten wir deine Freunde warnen, meinst du nicht auch? Am besten, bevor sie den gleichen Fehler begehen wie du und sich gegenseitig auf die Schuhe kotzen.« 

Kapitel 2
    Das Erwachen war schwieriger als sonst, in zweierlei Hinsicht. Charity war es gewohnt, schlagartig und sofort aufzuwachen, und sie war es gewohnt, sich umgehend und ohne die geringsten Anlaufschwierigkeiten an alles zu erinnern, was vor dem Einschlafen geschehen war. Diesmal war alles anders. Sie erwachte nur mühsam: Es war kein kraftvoller Sprung an die Oberfläche des Bewußtseins, sondern ein unendlich langsamer, mühevoller Aufstieg aus einem bodenlosen Abgrund, in dem kein Platz für Erinnerungen oder auch nur das Gefühl für das Verstreichen der Zeit gewesen war. Sie konnte nicht einmal sagen, ob sie wenige Minuten oder viele Stunden geschlafen hatte, und was vorher geschehen war. »Das gibt sich gleich«, sagte eine Stimme irgendwo in der wattigen Dunkelheit über ihr.  Charity strengte die Augen an, versuchte die Finsternis mit bloßer Willenskraft zu vertreiben und schaffte es tatsächlich, wenigstens zum Teil: Aus dem konturlosen Brei aus verschiedenen Grautönen, durch den sie glitt, wurden die verschwommenen Umrisse eines spartanisch eingerichteten Zimmers. Dann blickte sie in ein kantiges, markantes Gesicht, in das ein turbulentes
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