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Der dritte Mond

Der dritte Mond

Titel: Der dritte Mond
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Leben tiefere Spuren gezeichnet hatte, als ihm an Jahren auch nur annähernd zustand. Durchdringende, fast schon unnatürlich blaue Augen blickten sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge an. Es hätte ein beinahe aristokratisches Gesicht sein können, wäre der Schädel nicht bis auf einen fingernagelkurzen Irokesenkamm kahlgeschoren gewesen, dessen Spitzen noch dazu einen Hauch von leuchtendem Neongrün aufwiesen. Charity starrte dieses bemerkenswerte Gesicht eine geschlagene Sekunde lang an, ehe ihr der dazugehörige Name einfiel – was geradezu absurd war, denn sie kannte diesen Mann besser als sonst jemanden. Irgend etwas stimmte mit ihren Erinnerungen ganz und gar nicht. »Was… meinst du?« »Deine Erinnerungen. Sie kommen gleich zurück. Das ist nur eine harmlose Nebenwirkung des Schlafmittels.« »Schlafmittel? Ich kann mich nicht erinnern, irgend jemandem erlaubt zu haben, mir ein Schlafmittel zu –« »Hast du auch nicht«, grinste Skudder. »Das war ich. Du hast sechsunddreißig Stunden wie ein Baby geschlafen. Und du hattest es verdammt nötig.« »Sechsunddreißig Stunden?!« Charity setzte sich kerzengerade auf und bereute die schnelle Bewegung schon im gleichen Moment wieder. Ihr wurde so schwindelig, daß sie nach vorn sank und das Gesicht in den Händen verbarg. »Wäre es nach den Ärzten gegangen, hätten sie dich eine Woche flachgelegt«, sagte Skudder. Seine Stimme hatte einen unangemessenen fröhlichen Klang, fand Charity. »Du hattest eine gebrochene Rippe, ein zerschmettertes Handgelenk, zwei gestauchte Rückenwirbel, ungefähr drei Dutzend ernstzunehmender Blutergüsse und Prellungen und… und den Rest habe ich vergessen, aber die Liste war noch ziemlich lang. Wie gesagt: Sie wollten dich eine Woche lang auf Eis legen. Aber ich wußte, daß du den Chefarzt erschießen würdest, wenn du aufwachst, und konnte ihn von Gegenteil überzeugen.« »Was ist passiert?« murmelte Charity. Das Zimmer hörte ganz allmählich auf, sich in gegenläufigen Kreisen um sie herum zu drehen. »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Skudder. »Zuerst herrschte allumfassende Dunkelheit, weißt du, und dann erschuf der große Geist Himmel und Erde –« »Skudder!« Skudder lachte glucksend, aber nur für einen ganz kurzen Moment. Als Charity die Hände herunternahm und in sein Gesicht sah, war das Lächeln selbst aus Skudders Augen verschwunden. »Nichts«, sagte er. »Jedenfalls nichts, was es erforderlich gemacht hätte, dich zu wecken. Du hast diese Ruhepause dringend gebraucht.« Charity ersparte es sich, zu protestieren, aus dem ganz einfachen Grund, daß Skudder recht hatte: Sie war mit ihren Kräften am Ende gewesen. Sie konnte niemandem helfen, wenn sie im entscheidenden Augenblick zusammenklappte. »Hartmann?« fragte sie. »Es geht ihm gut«, antwortete Skudder. »Und Net und den Kindern ebenfalls. Er hat ausnahmsweise mal das Richtige getan und nicht versucht, den Helden zu spielen, sondern seine Familie in Sicherheit gebracht.« »Sind sie noch hier?« Skudder schüttelte den Kopf. »Niemand ist noch hier«, antwortete er. »Wir haben das gesamte Zivilpersonal der Basis evakuiert, einschließlich der Familien der Soldaten.« »Eine vernünftige Idee«, sagte Charity. »Zu vernünftig, um von dir zu sein. Wer ist darauf gekommen?« »Der Hohe Rat.« Jetzt klang Skudders Stimme eindeutig wieder spöttisch. »Eigentlich bekomme ich schon grüne Pusteln im Gesicht, wenn ich diese Versammlung von Clowns auch nur sehe, aber in diesem Punkt haben sie recht. Zwei Überfälle in weniger als zwölf Stunden sind ein bißchen viel. Es könnte eine schlechte Angewohnheit daraus werden.« Charity fand Skudders scherzhaften Tonfall immer unpassender. Sie kannte den Indianer lange genug, um zu wissen, daß es einfach nur seine Art war, den Schrecken zu verarbeiten, den er erlebt hatte; ein derber Humor, in den Charity sich oft genug selbst geflüchtet hatte, einfach um zu überleben. Trotzdem… er störte sie in diesem Moment. Sie wußte selbst nicht genau, warum. Nur um Skudder nicht antworten zu müssen, schlug sie die Bettdecke zurück und setzte die nackten Füße auf den Boden. Der Rest ihres Körpers war ebenso nackt, und als sie aufstand, konnte sie Skudders Blicke fast körperlich fühlen. »Keine Chance«, murmelte sie, während sie sich auf den Weg ins Bad machte. »Ich bin immer noch müde.« »Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, grinste
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