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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel
Autoren: Wilton Barnhardt
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kennengelernt zu haben, Miss Dantan, und ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Heimflug.«
    »Äh, Sir, ich muss Sie noch nach Gabriel O’Donoghue fragen …« Als durchzucke ihn ein elektrischer Schlag, fauchte er: »Das ist ein Thema, über das ich nicht diskutiere!«
    Im Schweigen nach dieser Antwort hatte Lucy Gelegenheit, sich an die verwickelte Geschichte ihres Freundes Gabriel und Dr. O’Hanrahans zu erinnern. Um Dr. O’Hanrahan ein paar zusätzliche Einkünfte zu verschaffen und ihm einige seiner Amtsprivilegien zu bewahren, hatte man Dr. O’Hanrahan im letzten Herbst an die Universität im Hyde-Park-Viertel berufen, damit er einige Studenten bei ihren Doktorarbeiten betreue. Gabriel war Dr. O’Hanrahan zugeteilt worden, und das ganze Jahr über war diese Beziehung zwischen Betreuer und Betreutem die größte Stress quelle in Gabriels jungem Leben gewesen.
    Gabriels Doktorarbeit – eines von fünf Themen im letzten Jahr – hatte auch mit hellenistischem Griechisch zu tun, einem Spezialgebiet Dr. O’Hanrahans. Nichts, was Gabriel schrieb, sagte oder dachte, passte dem Emeritus, der seinen Schützling schlicht für einen Idioten hielt. Doch wenn Gabriel drohte, ihre monatliche Verabredung abzusagen, schien Dr. O’Hanrahan besorg t und bestand darauf, ihn zu se hen. Einmal gestand Gabriel sogar am Telefon, daß er seit der letzten Zusammenkunft keinen Federstrich gearbeitet hatte, aber Dr. O’Hanrahan sagte, sie sollten sich trotzdem treffen.
    Schließlich kam Gabriel der Verdacht, daß der alte Knabe wohl einsam sei. Dann im Januar 1990 fragte Dr. O’Hanrahan völlig überraschend, ob Gabriel sein Forschungsassistent werden wolle. Damit verbunden war eine einmonatige Reise nach Europa: Jerusalem, Rom, Deutschland, Frankreich, England … Lucy erinnerte sich deutlich an den ekelhaften Wintertag, als Gabriel sie besuchte, um ihr davon zu erzählen. »Klingt wie eine großartige Gelegenheit, Gabe«, sagte sie. »Ich weiß«, erwiderte er und schritt in seinem Kapuzenmantel hin und her, wobei er den Teppich voll Schnee tropfte. »Aber eine so lange Zeit mit diesem Menschenfresser!«
    »Wahrscheinlich ist er inwendig ganz sanft«, meinte Lucy. »Auf irgendeiner Ebene muss er ja umgänglich sein.«
    Nun, da habe ich mich vielleicht geirrt, dachte Lucy jetzt, wieder zurück in der Gegenwart. Sie versuchte es noch einmal: »Entschuldigen Sie, Sir, aber in Chicago weiß kein Mensch, ob Ihr Assistent Gabriel noch lebt oder ob er tot ist …«
    »Es ist mir egal, wenn er tot ist. Mein Assistent ist er jedenfalls nicht mehr, dieser kleine Judas.« Er starrte Lucy wütend an. »Wollen Sie mich jetzt in Ruhe lassen?«
    Lucy trat den Rückzug an und nickte ihm einen Abschiedsgruß zu, während er zurück zu seinem Pult stolzierte. Ein paar Studenten hatten die Szene neugierig beobachtet; Lucy sah sich in der Hoffnung auf eine Spur von Mitleid um, fand aber keines.
    Lucy stolperte hinaus in die feuchtkühle Luft des grauen Junitags und setzte sich wie andere Studenten auf einen Sims der von einer Kuppel überwölbten Bibliothek. Ihr Auftrag gestaltete sich noch schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Was um Himmels willen wird Dr. O’Hanrahan sagen, fragte sich Lucy, wenn ich morgen Abend bei dem Akoluthen-Dinner auftauche? Vielleicht hätte sie das eben erwähnen sollen. Lucy, die sich erschöpft fühlte und die nötige Bettschwere hatte, ging zurück ins Braithwaite College und in ihre spartanische Zelle. Sie entdeckte, zwei Stockwerke tiefer, die modrige Toilette. Dann putzte sie sich an dem Waschbecken in ihrem Zimmer die Zähne, wobei sie feststellte, daß aus dem Warmwasserhahn zwar keineswegs warmes Wasser kam, daß er aber munter in das fleckige Becken wei tertropfte, sobald man ihn einmal betätigt hatte. Lucy ließ sich auf dem harten, knarzenden Bett nieder und las im Licht der schwachen Glühbirne in ihrem Reiseführer. Als die Müdigkeit sie überwältigte, murmelte
    sie mechanisch ein Vaterunser und dankte Gott, daß er sie gesund in dieses fremde Land gebracht hatte.
    (Schlaf gut!)
    »Und Heiliger Geist«, fügte sie hinzu, »bitte, lasse mich bei meinem einzigen kleinen Auftrag für die Universität kein Versager sein!«
    (Alles andere als das, Mein Kind.)
    Lucy wurde nicht warm zwischen den rauhen, klammen Betttüchern und der muffig riechenden Hundedecke, die es für die Gäste von Braithwaite gab. Sie atmete ein paarmal aus und befürchtete, sie könnte fast ihren Atem sehen. Schließlich
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