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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel
Autoren: Wilton Barnhardt
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schwache Sonne des englischen Morgens trat, Reiseführer und Stadtplan in der Hand. Sie verbrachte den Tag mit Besichtigungen und schoss Fotos, ein wenig nervös beim Gedanken an die Veranstaltung, die vor ihr lag.
    Das Akoluthen-Dinner. Um Himmels willen, ich hoffe bloß, sie fragen mich nichts.
    Um halb sechs fing sie an, sich feinzumachen. Sie kämmte ihr ansonsten krauses tiefrotes Haar, das die englische Feuchtigkeit weich und glatt gemacht hatte. Sie zog einen konservativen, weiten schwarzen Rock an, schwarze Strümpfe und eine weiße Bluse, ihre Kluft für formelle Anlässe, der offiziellen Uniform der Oxforder Studentinnen nicht mal unähnlich. Pünktlich um halb sieben meldete sie sich schüchtern beim Pförtner des All Souls’. Man wies ihr den Weg zu einem holzgetäfelten Raum im oberen Stockwerk, in dem sich zu jenem Zeitpunkt erst drei Personen eingefunden hatten.
    An den Wänden dieses Studierzimmers standen Vitrinen, in denen ausgewählte Gegenstände ausgestellt waren, darunter drei Nobelpreise, die Pfeife eines ehrenwerten Mitglieds, eine lateinisch abgefasste Wette auf Pergament aus dem 16. Jahrhundert und ein Silberkelch. Sicher hat jedes dieser Stücke seine eigene erhabene Geschichte, die es berechtigt, in diesen Sammlerschränken zu stehen, dachte Lucy. Im übrigen war der Raum elegant eingerichtet, mit typisch englischen Bildern von Fuchsjagden, einem Schwert über dem Kamin, einem langen, dunkelflec kigen Mahagonitisch, der schwer mit Flaschen und Gläsern beladen war, und zwei Dienern, die den Gästen schweigend aufwarteten. »Sie müssen Miss Dan-tan sein«, sagte Dr. Whitestone, ein großer, aristokratischer Gentleman mit dem Kragen eines Geistlichen, anglikanischer Vikar von St. Elizabeth. »John Shaughnesy hat geschrieben, Sie würden Pater Rat chetts Platz einnehmen, nicht wahr?« Seine klammen Finger umschlossen ihre Hand. Erleichtert überließ Lucy sich seiner Führung, und er geleitete sie zu den übrigen Gästen. Sie wurde einem Dominikanerbruder vorgestellt: Pater Philip Beaufoix aus Montreal, der an der amerikanischen Universität in Kairo lehrte. Er war ein kleiner, untersetzter Mann, nach Lucys Schätzung in den Sechzigern, mit einem sanften, olivfarbenen Gesicht und einer großen gallischen Nase, großporig von einem Leben mit geselligem Trunk, was ihn gleichermaßen zugänglich und weise erscheinen ließ.
    Neben ihm saß Schwester Marie-Berthe, etwa fünfzig Jahre alt, eine Josefinerin, ebenfalls aus der Provinz Quebec stammend und neuerdings an der HerzJesu-Akademie in Toulouse tätig. Dr. Whitestone holte ein Tablett mit Likören.
    »Bon soir, Mademoiselle«, sagte Pater Beaufoix mit einer Verbeugung und fuhr dann in fragendem Ton fort: »Dr. Whitestone sagt, Sie stehen irgendwie in Verbindung mit Patrick?«
    »Ich komme von der Universität in Chicago. Ich bin eine seiner … Schülerinnen, könnte man sagen.«
    »Sind Sie als Patricks Assistentin hier?« hakte die Schwester nach.
    »Äh, nein.«
    »Arbeiten Sie vielleicht an einem eigenen Buch?«
    »Oh, nein.«
    Schwester Marie-Berthe warf Pater Beaufoix einen vielsagenden Blick zu und unterdrückte ein Lächeln. O Gott, dachte Lucy, jetzt halten sie mich für seine Geliebte.
    Sie gingen weiter. »Wir sind heute Abend die kanadische Abordnung«, flüsterte die Schwester in perfektem nasalem Englisch. »Was immer ich heute Abend sage, Philip, Sie werden mir zustimmen, non?«
    »Warum sollte ich heute Abend eine Ausnahme machen?« Die Tür ging auf, und weitere Akoluthen kamen herein. Die meisten hielt Lucy für in Oxford ansässige Gelehrte. Ein unangenehm aufgekratzter Kollege, Dr. Crispin Gribbles, wurde vorgestellt, ein Mann Ende Vierzig, in dessen Mundwinkeln sich weißer Schaum bildete. Er war ein Gelehrter, der zum St. Ann’s College gehörte und im Augenblick einen Katalog der Reliquien von St. Aloysius, der beliebten katholischen Kirche, für all die ausländischen Studenten erstellte, wie er erzählte: »Oh, es ist furchtbar, Vikar«, sagte Dr. Gribbles zu Dr. Whitestone. »Diese ganzen Spanier, Italiener und Franzosen, die in den Bänken knien und weinen – das kann vielleicht ein Anblick sein, wenn diese ausländischen Schüler gruppen durchkommen. Fünfzehn, sechzehn Jahre alt, das erstemal von zu Hause fort, können unser Essen nicht ausstehen, können unser Wetter nicht ausstehen, und so kommen sie nach St. Aloysius, um zu weinen.«
    Lucy nahm ein kleines Likörglas vom Tablett. Es enthielt ein
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