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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel
Autoren: Wilton Barnhardt
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schläfrigen Studenten um ihn herum aufschraken.
    Lucy schob sich zögernd vorwärts, während sie sein furchteinflößendes Gesicht taxierte.
    Patrick Virgil O’Hanrahan mochte etwa einsfünf undachtzig groß und um die fünfundsechzig Jahre alt sein, schätzte Lucy; er war ein wenig kahl, das verbliebene weiße Haar eines gottgefälligen Mannes hatte er nach vorn und quer über das Haupt gekämmt; aus dem rosigen Gesicht eines eingefleischten Iren leuchteten stahlblaue Augen, deren Blick jeden Unwissenden und Unentschuldbaren versengen konnten. Ansonsten war er der typische emeritierte Professor: ein Schmerbauch, ein ehemals guter Anzug, der nun abgetragen und um den Gürtel schmuddelig wirkte; und ob er sich bewegte oder ruhig dasaß – er verbreitete immer eine spezielle Atmosphäre um sich, eine eigene Klimazone, die ihn einhüllte. Lucy erinnerte sich an seine dröhnende Rednerstimme, die seine Vorlesungen legendär machte und Anlass war, seinen Zorn tunlichst zu vermeiden. Sie trat einen Schritt näher.
    Sein Arm lag in einer Schlinge, aber ohne Gips oder zumindest Verband, der diese Verletzung erklärt hätte. Sie sah zu, wie er sich hinter das viktorianische Schreibpult zwängte – gerade daß er hineinpasste – und mit seinem gesunden Arm die Schlinge unbeherrscht herunterriss und auf den Boden warf. Langsam streckte er den kranken Arm aus, zuckte leicht zusammen, bewegte di e Finger und rieb sich das of fenbar verletzte Ellenbogengelenk. Lucy trat noch einen Schritt näher.
    Ohne aufzublicken, fragte Dr. O’Hanrahan leise: »Kann ich Ihnen behilflich sein, meine Liebe?«
    »Sie sind Dr. O’Hanrahan, glaube ich, Sir.«
    Immer noch ohne sie anzusehen, sprach er weiter: »Es tut mir leid, wenn ich mich gestern Abend danebenbenommen habe, aber zuviel Madeira ist schuld daran. Wenn das Kleid ruiniert ist, geben Sie es einfach in der Pförtnerloge des All Souls’ ab, und ich werde es nur zu gerne richten oder reinigen lassen.«
    »Äh, ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemand anderem, ich bin …«
    Er sah endlich auf und musterte sie mit einem leicht neugierigen Blick.
    »Ich bin … eigentlich hier, um mit Ihnen zu sprechen, Sir.«
    Dr. O’Hanrahan ließ sich nicht beirren. »Wenn ich nicht gerade Vater des Kindes ihrer Liebe bin, junge Dame, kann ich mir nicht vorstellen, was wir miteinander zu besprechen haben sollten.«
    »Lucy Dantan, Sir. Ich bin vom Fachbereich. Man hat mich geschickt, um, äh, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«
    Sein Gesichtsausdruck zeigte nicht die geringste Veränderung. »Meine Gesundheit ist bestens, danke sehr«, erwiderte er mit ruhiger Stimme.
    »Mein Arm ist ein wenig lädiert, nachdem ich gestern Abend im Hof gestürzt bin, und mein Magen ist dank des britischen Leitungswassers eine wild wogende See, aber abgesehen davon stehe ich im goldenen Glanz meines Lebensherbstes.« Bei diesen Worten stand er auf und zwängte sich aus dem Schreibpult. Seine Stimme hob sich: »Jetzt wissen Sie, wie es mir geht. Sie können wieder gehen. Gehen Sie weit weg, zurück nach Chicago, und richten Sie meinen Feinden aus, daß sie nicht weiter an mich zu appellieren brauchen.« Er zog die weißen Augenbrauen hoch, und sein Gesichtsausdruck war nun entschieden bösartig. »Dieser Clown Shaughnesy hat Sie geschickt, nicht wahr?«
    »Äh, ja, Sir, ich …« »Sagen Sie diesem unfähigen Kerl, dieser bedeutungslosen Null, dieser Karikatur eines menschlichen Wesens …« Während dieser Tirade fiel Lucy ein, daß Dr. Shaughnesy 1974 Dr. O’Hanrahans Rücktritt als Leiter des Fachbereichs eingefädelt hatte. Zu Dr. O’Hanrahans eigenem Besten, hieß es.
    » … wenn er auch nur ein Stückchen von dieser Suchaktion für sich abschneiden möchte, wenn er einen Sekundenbruchteil lang denkt – länger kann er sein Hirn garantiert nicht konzentrieren –, daß der theologische Fund dieses Jahrhunderts eine winzige Höllenchance hat, jemals in die Patrick O’Hanrahan Library und ihr Forschungszentrum am Theologischen Fachbereich zu kommen …«
    Lucy erinnerte sich, daß der Preis für Dr. O’Hanrahans Abgang als Fachbereichsleiter darin bestanden hatte, die Fachbereichsbibliothek nach ihm zu benennen, was nur gerecht war, weil Dr. O’Hanrahan all ihre Schätze zusammengetragen hatte. Zudem stellte Lucy fest, daß sie zurückwich, während er auf sie zukam.
    » … dann ist er ein noch größerer Erpresser und Schwindler, als ich bereits gewusst habe. Ist das klar? Gut. Es war nett, Sie
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