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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel
Autoren: Andreas Sommer
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darauf, dass Henry nicht mehr der Alte ist, doch davon später. Unsere Wohngemeinschaft ist das reine Chaos. Ich habe es längst aufgegeben, irgendwelche Haushaltspläne zu entwerfen. Sie funktionieren sowieso nie. Küche und Bäder sind Kriegsgebiet. Und warum erwachsene Menschen die letzte Milch verbrauchen, ohne sich um Nachschub zu kümmern, wird mir wohl ewig ein Rätsel bleiben. Alle versuchen sich irgendwie rauszureden. Maurice will nicht bemerkt haben, dass die Tüte »schon so leicht« geworden ist. Lilith mag im Moment grad keine Milch. Carla meint, in dieser Woche sei Réa fürs Einkaufen zuständig. Und die führt ins Feld, es gefährde ihre Kreativität, wenn sie sich um so banale Dinge wie Milchtüten kümmern würde. Und während wir noch diskutieren und lamentieren, macht sich Tensi in aller Ruhe auf den Weg in den Supermarkt … Das Jahr zwischen Maskenfest und Bandkeller hat mich viel Kraft gekostet. Und das Alter bekommt meiner Gesundheit auch nicht besonders gut. Außerdem schlafe ich nicht genug. Aber welcher Mutter ginge das anders, solange ihr Sohn hinter Gittern ist. Wie gesagt, ich besuche ihn jede Woche. Wir haben gute Gespräche. Henry mag sich in Kanada neu ein- und ausrichten – Severin ist wie neugeboren. Mir kommt es so vor, als habe er zum ersten Mal in seinem Leben Respekt vor sich selbst. Warmherziger Humor mit einem Schuss Selbstironie wächst ihm zu.
    Zu Beginn seiner Haftzeit kam es zu einem Eklat. Réa besuchte ihn. Sie muss sehr beschämt aufgetreten sein. Fühlte sich schuldig. Sah in ihrer Affäre mit Shandar und der Demütigung, die sie ihrem Mann dadurch zugefügt hatte, den Auslöser für Severins Absturz. So gestand sie es ihm. Er geriet außer sich, schrie sie an: »Erst wenn du diese vermaledeiten Schuldgefühle auf den Kehricht geworfen hast, will ich dich wieder sehen. Dann aber liebend gern.« Das berichtete mir Réa, die weinte und nicht verstand, warum ich so strahlte. Für mich war es halt ein Indiz mehr, dass Severin sein Leben auf die eigenen Schultern genommen hatte.
    Jetzt sehen er und Réa sich regelmäßig. Was daraus wird? Venus mag es wissen. Réa sagt mir, dieser Planet stehe ausgesprochen günstig für sie beide – peinlich! Diese diffus religiösen beziehungsweise esoterischen Spekulationen immer! Nichts davon ist seriös. Nichts stimmt. Es gibt keine andere Instanz als das Ding, das man Gewissen nennt. Jeder hat es, nicht jeder nutzt es. Himmel und Hölle geben keine Ratschläge. Aber ich komme ins Plaudern – bin ja bald auch siebenundsiebzig.
    Die Sans Papiers der Stadt haben fast alle ihre Chance beim Schopf gepackt und sich Arbeit gesucht oder eine Ausbildung begonnen. Nur Shandar ist nach Ghana zurückgekehrt. Dass sich Réa von ihm zurückgezogen hat, war schwer für ihn. Genaueres weiß ich nicht; Réa schweigt sich dazu aus. Ich hörte aber, dass Shandar mehrmals Kinder aus den Textil-Klitschen begleitet hat, die in Montpellier eine Hauttransplantation erhielten. Scheinbar assistiert er einem Richter aus Accra, der auf Anraten Henrys zum Verwalter der Bellini-Gelder eingesetzt wurde. Diese Sache ist für mich ein blinder Punkt in der Geschichte. Ich weiß weder, wie dieser Richter ins Spiel kam, noch, ob er das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt, verdient. Er scheint ein charismatischer Mensch zu sein. Ein Reporter unseres Lokalblattes, der in Accra recherchierte, bezeichnete ihn in einem Porträt bewundernd als Mischung aus »Onkel Tom« und Nelson Mandela. Das müsste als Charakterausweis eigentlich genügen.
    Mich dünkt, in letzter Zeit sind die Spiegel ehrlicher zu mir geworden. Sie zeigen mir mein Alter unverblümter als früher. Ich komme damit klar. Fürs richtige Altern brauche ich ungefähr gleich viel Galgenhumor wie für unser Zusammenleben in Salvatores ehemaliger Prunkvilla. Habe ich schon erwähnt, warum wir uns dieses Haus trotz riesiger Bankzinsen leisten können? Wegen Réa! Schrift an der Wand hat ihr auf der Biennale in Venedig den Durchbruch gebracht. Ein wenig ist das auch mein Verdienst. Die Finanzierung des fast achtzehntausend Euro teuren Transportes war ja im letzten Moment gescheitert, weil gewisse Kreise sie unter Druck setzen wollten. Auch dahinter steckte Aldo. Aber lassen wir das. Ich ging an meinen Sparstrumpf, leerte ihn zwar nicht ganz, aber fast. Das Guggenheim in Barcelona kaufte die Wand zu einem unverschämten, will heißen: erfreulich hohen Preis. Seither ist Réa sehr gefragt. Eine Ausstellung in
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