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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis
Autoren: Richard Doetsch
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konnte Michael die Augen sehen, die ihn mit voller Furcht, Zorn und Scham anblickten. Die smaragdgrüne Farbe dieser Augen wirkte stumpf.
    Michaels Herz setzte aus. Für einen Moment war er fassungslos über den unerwarteten Anblick der Frau, die hier im Todestrakt saß.
    Es war die Frau, die er erst vor zwei Wochen in seinen Armen gehalten hatte.
    Michael blickte bestürzt in KCs Augen.
***
    Dreiundsechzig Stunden zuvor hatte KC in die dunkle Vertiefung eines sechzig mal sechzig Zentimeter großen Wandsafes geblickt. Sie stand mitten in einem Büro in Amsterdam, das sich im obersten Stock eines Wolkenkratzers befand. Die mitternächtliche Welt um sie her war stockdunkel. Der Raum war aufwendig eingerichtet mit Tischen und Stühlen von Hancock & Moore, antiken Perserteppichen, kostbaren Kunstwerken und teuren elektronischen Geräten. Um den Kopf trug KC ein schmales Stirnband; die in der Mitte des Bandes befestigte Leuchte erhellte den offenen Wandsafe vor ihr. Mit der Hand umfasste sie einen vergilbten Brief, der in einer durchsichtigen Plastikhülle steckte. Der Brief war uralt; die Tinte der mit der Hand geschriebenen schwarzen Buchstaben war verlaufen. Da der Brief in Türkisch geschrieben war, konnte KC ihn nicht entziffern; sie erkannte nur die ineinander verschlungenen Symbole von Christentum, Judentum und Islam, die im rechten oberen Eck zu sehen waren.
    Sie reichte Simon den Brief, der ihn rasch durch einen tragbaren Scanner laufen ließ, der an sein Mobiltelefon angeschlossen war; auf diese Weise schickte er Fotos des Briefes direkt an sein Büro in Italien.
    Behutsam schloss KC die Tür des Safes und achtete darauf, dass sie nicht über das Alarmsystem stolperte, dem sie fünfzehn Minuten zuvor so gekonnt ausgewichen war. Sie hängte das Bild wieder über die Safetür und stellte den Schnickschnack und die Kuriositäten, die das Regal darunter zierten, wieder richtig hin.
    Sie hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als sie plötzlich das Gemälde erblickte, das an der Wand neben dem Schreibtisch hing. Es hieß »Das Leiden« und war von Goetia, ein Meisterwerk aus dem Jahre 1762, das entstanden war, als der Künstler den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hatte. KC kannte es gut, wahrscheinlich besser als irgendein anderes Gemälde auf der Welt. Sie hatte recherchiert, wem es in der Vergangenheit gehört hatte, kannte den Lebenslauf des Künstlers, wusste, welche Art von Farbe er benutzt und auf welche Leinwand er gemalt hatte. KC war Expertin in Sachen Goetia geworden, denn »Das Leiden« war das erste Stück gewesen, das sie gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft hatte.
    KCs Gedanken überschlugen sich. Sie starrte Simon an.
    »Was ist?«, fragte Simon, als er ihre sorgenvolle Miene sah.
    »Ich habe das Gemälde vor zehn Jahren gestohlen«, erwiderte KC und ließ dabei den Blick durch den Raum schweifen. »Wir müssen hier weg, sofort.«
    Simon förderte einen bereits adressierten und frankierten Briefumschlag zutage und eilte aus dem Büro. Er steckte den mit Plastik verhüllten Brief in den Umschlag, rannte in die Lobby und warf den Umschlag in den Hauptbriefkasten.
    KC eilte zu ihm. »Meinst du, das war eine Falle?«
    Simon blickte sie an. »Nein. Ich …«
    Bevor er weitersprechen konnte, öffneten sich die Türen des Fahrstuhls. Im Innern war das Licht abgeschaltet. Drei Wachleute stürzten heraus, während zwei Männer in der Dunkelheit der Kabine verharrten und schweigend beobachteten, wie Simon und KC sich ergaben. Obwohl KC die Gesichter der Männer nicht sehen konnte, wusste sie genau, wer der Kleinere der beiden war. Es lag nicht nur an seiner Silhouette, es hatte vor allem mit einer plötzlichen Veränderung der Atmosphäre zu tun, einem Gefühl von Angst und Schrecken, das sie nicht mehr empfunden hatte, seit sie ein Teenager gewesen war.
***
    Barabas Azem Augural, seines Zeichens Direktor von Chiron, saß in seiner Wohnung im obersten Stock des Gefängnisbaues. Es war ein hundertzehn Quadratmeter großes Reich, dessen luxuriöse Einrichtung einen beinahe aberwitzigen Kontrast zum tristen Gefängnis bildete.
    Die Wände waren mit Holz verkleidet und mit Kunstwerken und antiken Spiegeln behängt. Die Einrichtung war elegant und gediegen zugleich: Sofas aus Wildleder, mit Seide bezogene Ohrensessel, Schränke und Truhen aus Edelholz. Aus den großen Fenstern hatte man einen Blick über die Wüste, deren Sand im Mondlicht schimmerte und deren Felsgestein sich bis zum Horizont
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