Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Friedrich Glauser
Vom Netzwerk:
Verwandten in Betracht…
    Der Tote hatte eine verheiratete Schwester in Bern. Bevor sie mit dem Maurer Äbi eine Ehe einging, hatte sie einen unehelichen Sohn zur Welt gebracht, der den Namen der Mutter trug: er sitzt hier neben mir… Ludwig Farny heißt er. Dem Äbi gebar die Frau zwei Kinder, ein Mädchen Anna, die später den Hausvater Hungerlott heiratete, einen Sohn Ernst, der den Jahreskurs der Gartenbauschule Pfründisberg besuchte…
    Herr Notar Münch war von James Farny zu einer Besprechung bestellt worden, die am 18. November stattfinden sollte. An diesem Tag, zu dieser Stunde, war der ›Chinese‹ schon tot – Herzschuß… Die Kugel, die den Tod herbeigeführt hat, ist verloren – Ich besitze nur die Hülse, die ich vorgestern gefunden habe.
    Meine Herren! Anna Hungerlott-Äbi, die Nichte des ›Chinesen‹, ist vor vierzehn Tagen an einer Darmgrippe gestorben. Dieser plötzliche Tod weckte den Verdacht ihres Onkels, und wegen dieses Todes bestellte er Herrn Notar Münch nach Pfründisberg zu einer Besprechung… James Farny verdächtigte offenbar den Hausvater Hungerlott, den Gatten der Anna, seine Frau mittels Arsen vergiftet zu haben. Münch hat dies fast bewiesen…
    Durch einen Zufall gelang es mir, den Beweis für den Verdacht – ich kann ruhig sagen, meines Freundes – zu erbringen. Drei Taschentücher, die von Frau Hungerlott-Äbi gebraucht worden waren, enthielten deutliche Arsenspuren… Den Rapport über diese Angelegenheit wird der Assistent am Gerichtsmedizinischen Institut, Dr. Malapelle, der zuständigen Behörde überreichen.
    Herr Hungerlott, Hausvater der Armenanstalt Pfründisberg, gab sich Mühe, das Dokument, das Herrn Notar Münch nach Pfründisberg rief, in seinen Besitz zu bekommen. Zu gleicher Zeit besaß mein Freund, der Notar, ein handgeschriebenes Testament des ermordeten James Farny. Es ist dem Zufall zuzuschreiben, daß es dem Hausvater nicht gelang, beide Dokumente in seine Hände zu bekommen. Er lud den Notar ein, bei ihm in der Armenanstalt zu wohnen. Notar Münch hat Ihnen erzählt, was in der ersten Nacht vorgefallen ist.
    Es war jedoch ein Mitwisser vorhanden, ein Mitwisser an der Ermordung des James Farny. Sie werden zugeben müssen, meine Herren, daß es für einen einzigen Menschen unmöglich war, den ›Chinesen‹ zu erschießen, ihn anzuziehen, und seine Leiche an einen Ort zu bringen, der die Polizei auf eine falsche Spur führen sollte. Der Mitwisser, der Mithelfer, war Ernst Äbi, Schüler der Gartenbauschule. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, diesen Burschen zu verdächtigen. Doch wurde am ersten Tage meines Hierseins mittels einer Schleuder eine Bleikugel durch die Fensterscheibe meines Zimmers geschossen, an der eine Warnung angebracht war: ›Finger ab de Röschti!‹ Die Warnung, die getippt war, machte mich stutzig: Warnungen werden gewöhnlich nicht so familiär formuliert, werden besonders nicht im Dialekt geschrieben…
    Die Warnung konnte nicht von Vater Äbi stammen, ich wußte, daß er in Bern war, daß er dort in einer Kohlenhandlung eine Aushilfsstelle gefunden hatte.
    Schlußfolgerung?
    Der Mann, der bei dem Transport der Leiche mitgeholfen hatte, mußte mir diese Warnung zugeschickt haben… Sie werden mich fragen, warum mein Verdacht nicht auf Ludwig Farny fiel… Im Augenblick, da ich die Warnung erhielt, lag Ludwig Farny im Zimmer der Serviertochter Hulda Nüesch. Als ich ihm später den Zettel zeigte, wurde er rot: also mußte er den Mann kennen, der mir die Warnung zugeschickt hatte… Wen kannte Ludwig außer den Armenhäuslern, die, wie alle Alkoholiker, schwatzhaft waren und daher als Komplizen ungeeignet? Seinen Stiefbruder, Ernst Äbi. Später erfuhr ich, daß Äbi Ernst dem Ludwig geholfen hatte, als dieser sich in Not befand. Nun war mir der Fall klar: Der Mann, der hinter den Morden steckte, konnte versuchen, sich seines Mitwissers zu entledigen. Ich gab deshalb Ludwig Farny den Auftrag, auf seinen Stiefbruder aufzupassen… Denn, meine Herren, Ernst Äbi würde sicher alles versuchen, um seinen Vater zu decken. Inzwischen war ich nach Bern gefahren und lernte dort – wenn auch indirekt – den Charakter des ehemaligen Maurers Äbi kennen. Der Mann besaß Geld, er trank, brutalisierte seine Frau – und, was das Merkwürdigste war, er war sehr eng befreundet mit dem Hausvater der Armenanstalt, Herrn Hungerlott.
    Ob diese Freundschaft aus der Zeit stammt, da Hungerlott Äbis Tochter heiratete – ob umgekehrt Hungerlott
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher