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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Friedrich Glauser
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erzählen müssen, Mutter, weil ich es sonst nicht aushalte, aber erzähl niemandem etwas davon, besonders dem Vater nicht.
    Muetti, viel Liebes von deinem Sohne Ernst.
    Aber erzähl niemandem etwas von dieser Sache.«
    »Und dieser Brief soll echt sein? Hahaha!« Vater Äbi lachte, »ich allein hab' doch den Schlüssel zum Briefkasten!«
    Studer blickte die alte Frau an: Sie war ärmlich gekleidet, ihr Rock war lang und unter dem Saum sahen grobe Schuhe hervor. Wie viele alte Frauen hielt sie die Arme verschränkt, so zwar, daß ein Ellbogen in der hohlen Hand ruhte. Sie stand auf, ihr gebeugter Rücken streckte sich – wirklich, diese alte Frau, die Studer krank gesehen hatte, sah vornehm aus. Und die Antwort, die sie ihrem Manne gab, war nicht etwa höhnisch, nein, Verachtung lag in ihr, aber eine würdevolle Verachtung.
    Der Noldi halte sie für so dumm, sagte sie und wandte sich ausschließlich an den Wachtmeister, daß er meine, sie lasse ihre Briefe nach Hause kommen! Seit Jahren schon habe sie eine Freundin, an die sie die Briefe schicken lasse, von denen sie nicht wolle, daß der Mann sie sehe. Hier sei die Adresse, wenn sie den Wachtmeister interessiere…
    Studer nahm beides an sich: Brief und Enveloppe, übergab die Papiere dem Statthalter und sagte – er bediente sich des Schriftdeutschen –: »Sie lassen beides zu den Akten legen…«
    »Habe ich also doch recht gehabt, Herr Wachtmeister?«
    Studer lupfte die Achseln: »Es war nicht schwer zu erraten«, meinte er.
    Eine Flut von Schimpfworten ergoß sich aus Vater Äbis Mund. Doch schließlich ging dem Manne der Atem aus und in die Pause hinein sagte die alte Frau: »Ich hätte ihn nie verraten, wenn er nicht den Ernst…«
    Ihre Augen blieben trocken, sie zog aus der abgeschabten Handtasche ihr Nastuch, schneuzte sich.
    Die Stille im Raum war so tief, daß man das Summen einer Winterfliege hören konnte… Was nun… Studer erinnerte den Statthalter, daß es an ihm war, einen Entschluß zu fassen.
    »Verhaften«, sagte Herr Ochsenbein, »beide verhaften…«
    Vater Äbi stand da, die Unterlippe hing ihm aufs Kinn, ratlos starrten seine Schnapseräuglein. Aber der Hausvater Hungerlott entschloß sich schneller – ein Sprung… Zersplitterndes Glas – Der Hausvater war zum Fenster hinausgesprungen. Alles drängte sich zu den zerbrochenen Scheiben. Unten lag der Mann, mühsam kroch er vorwärts; sicher hatte er ein Bein gebrochen…
    Mutter Äbi stand mitten im Zimmer; ein Wollschal war auf ihrer Brust gekreuzt und ihre verarbeiteten Hände waren gefaltet. Leise sagte sie:
    »Mein ist die Rache, spricht der Herr…« Dann lösten sich die Finger voneinander, die alte Frau nahm die Handtasche, die sie unter ihren Arm geklemmt hatte, suchte darin und brachte schließlich ein Päckchen Briefe zutage.
    »Die hat mir der Ernst gebracht – nach dem Tode der Anna. ›Behalt sie auf, Mutter‹, hat er gesagt. ›Nicht, daß sie in böse Hände kommen‹. Jemand hat sie der Schwester geschrieben, sie waren der einzige Trost für die Anna! Aber Ihr, Herr Studer, könnt sie behalten, wenn Ihr wollt…«
    Studer blätterte in dem Päckli. »Meine Geliebte!« – »Meine Innigstgeliebte!« – »Liebste! Bist du krank? Ich bin so traurig. Ist dein Mann gut zu dir? Sobald du gesund bist, mußt du die Scheidung einleiten. Ich habe mit deinem Onkel gesprochen und dieser ist einverstanden…« Der Wachtmeister setzte sich in einen Stuhl, das Summen im Zimmer störte ihn nicht. Er las weiter – »Meine Mutter hat mir gesagt, sie freue sich, dich begrüßen zu können. Dann wollen wir auch versuchen, deiner Mutter zu helfen. Die arme Frau…«
    »Was liest du da, Studer?« fragte der Polizeihauptmann. »Gehört das nicht auch zu den Akten?«
    Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit dem Fall zu tun. Gar nichts. Eine Privatsache, weiter nichts.«
    »Dann ist's gut. Wenigstens einmal hast du dich nicht blamiert.«
    »Nicht blamiert? Du hast eine Ahnung! Ich hab' nicht herausbringen können, warum ein Packpapier bei der Untersuchung einen Marshschen Spiegel gehabt hat. Und der Mann, der mir das sagen könnte, ist abgereist.«
    »Ein Zeuge?« fragte der Hauptmann. »Hast du einen Zeugen verreisen lassen? Was fällt dir ein?«
    »Er wird nicht erben können, der Zeuge. Nicht erben können! Zwar – erben wollte er nicht, darum macht es nichts.«
    »Du redest wieder einen Chabis zusammen! Ein wenig hat der Hungerlott doch recht gehabt!«
    Studers
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