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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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anständiger Mensch würde das tun.
    Frau Ristovskis Wohnungstür wird einen Spalt geöffnet, gerade so breit, dass sie herausschauen kann. »Was gibt’s? Es ist früh.«
    »Ich hole Wasser.« Er will sich nicht auf ihre Mätzchen einlassen. Es ist allgemein bekannt, dass sie mit der Sonne aufsteht. Wahrscheinlich ist sie schon seit ein, zwei Stunden wach, und soweit sich Kenan entsinnen kann, hat sie in den letzten Monaten mindestens fünf-, sechsmal noch früher an seine Tür geklopft.
    Die Tür wird geschlossen. »Frau Ristovski? Ich gehe mindestens zwei Tage lang nicht mehr.«
    Er hört sie drinnen herumhantieren, Flüche vor sich hin murmeln, dann wird die Tür wieder geöffnet, diesmal weiter. Sie streckt ihm zwei Wasserflaschen entgegen, schüttelt sie, als er sie ihr nicht schnell genug abnimmt.
    Kenan nimmt die Flaschen und betrachtet sie. Es sind die üblichen Limonadenflaschen, jeweils zwei Liter. Sie haben keinen Henkel. Seit Monaten bittet er sie darum, sich welche mit Henkeln zu besorgen, damit er sie mit seinen eigenen Behältern zusammenbinden kann. Er hat ihr sogar zwei von seinen angeboten, seine Reserveflaschen. »Sie haben keinen Henkel.«
    »Die hier fassen so viel Wasser, wie ich brauche. Wenn ich andere nehme, kriege ich vielleicht nicht genug.«
    »Die anderen sind größer.« Er hält sie ihr hin, aber sie nimmt sie nicht.
    »Sie sind doch kein Messbecher«, sagt sie und schließt die Tür.
    Kenan steht im Flur und horcht auf das Geräusch der Tür, das oben im Treppenhaus widerhallt. Am liebsten würde er die Flaschen vor ihrer Tür stehen, sie im Stich lassen. Sie würde sicherlich nicht sterben, wenn sie ein paar Tage ohne Wasser wäre. Vielleicht lernt sie etwas daraus. Ein angenehmer, aber sinnloser Gedanke. Sosehr er es auch bedauern mag, aber sie hat recht, er hat ihr ein Versprechen gegeben. Er betrachtet die Plastikflaschen in seiner Hand, schüttelt den Kopf, stößt die Haustür auf und tritt hinaus auf die Straße.

Dragan
    Man kann nicht mehr sagen, welche Version der Lüge die Wahrheit ist. Jetzt, nach allem, was geschehen ist, weiß Dragan Isović, dass es das Sarajevo, an das er sich erinnert, die Stadt, in der er aufgewachsen ist, auf die er stolz und in der er glücklich war, wahrscheinlich nie gegeben hat. Wenn er sich umsieht, kann er kaum noch sehen, was einst war oder vielleicht war, und mehr und mehr kommt es ihm so vor, als wäre hier niemals irgendetwas anderes gewesen als die Männer auf den Bergen mit ihren Gewehren und Geschützen. Irgendwie kommt ihm das auch nicht richtig vor, doch es gibt nur diese beiden Möglichkeiten.
    Das Sarajevo, an das sich Dragan erinnert, sah folgendermaßen aus: Steile Berge wichen zurück und bildeten ein Tal. In der Talebene zerschnitt der Fluss Miljacka die Stadt der Länge nach in zwei Teile. Am linken Ufer ging es im Süden zum Trebević hinauf, wo bei den Olympischen Winterspielen 1984 ein Teil der alpinen Wettkämpfe ausgetragen wurde. Wenn man nach Westen ging, stieß man auf Wohngegenden wie Stari Grad, Grbavica, Novi Grad, Mojmilo, Dobrinja und schließlich Ilidža, wo es einen Park voller Bäume, Wasser und einen Weiher gab, auf dem Schwäne in einem Haus lebten, das wie eine Hundehütte aussah. Man kam an der Akademie der Schönen Künste vorbei, dem Sport- und Handelszentrum Skenderija, dem Fußballstadion von Grbavica, der Konditorei Palma, der Redaktion der Zeitung Oslobođenje , dem Flughafen und der Siedlung Butmir, wo in der Jungsteinzeit, vor fünftausend Jahren, Menschen lebten.
    Wenn man nach Norden ging, über den Fluss, und auf dem Weg zurückkehrte, den man gekommen war, entlang dem rechten Ufer nach Osten, lief man durch Wohngegenden wie HaliloviĆi, Novo Sarajevo, Marindvor, Koševo, Bjelave und das alte Baščaršija. Man hätte mit der Straßenbahn fahren können, die mitten auf der Hauptstraße entlangführte, bis sie den alten Teil der Stadt erreichte. Dort beschrieb sie eine Schlaufe, westlich am Fluss entlang, am Parlamentsgebäude vorbei, der Kantonsverwaltung, dem Postamt, der Universität und danach am alten Rathaus, wo sich die Bibliothek befand, und führte dann in einem Bogen zurück, vorbei am Markale-Marktplatz und dem Veliki-Park, bis sie sich wieder mit der Hauptstrecke vereinte. Von hier aus konnte man nach Norden gehen, zum Koševo-Stadion, wo die Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele stattgefunden hatten, oder zum Krankenhaus, das auf der anderen Straßenseite
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