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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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lag.
    Sarajevo war eine großartige Stadt für Spaziergänge. Man konnte sich unmöglich verlaufen – wenn man nicht wusste, wo man war, musste man einfach bergab gehen, bis man auf den Fluss stieß, und von dort aus war wieder alles klar. Wenn man müde war, konnte man sich in ein Café setzen und einen Kaffee trinken, oder wenn man hungrig war, in einem kleinen Restaurant auf eine Fleischpastete einkehren. Die Menschen waren glücklich. Das Leben war schön. Jedenfalls in Dragans Erinnerung. Jetzt, so weiß er, kann man nicht mehr gefahrlos vom einen Ende der Stadt zum anderen laufen. Grbavica ist vollständig in der Hand der Männer auf den Bergen, und es wäre der reinste Selbstmord, wenn man sich nur in die Nähe begeben würde. Das Gleiche gilt für Ilidža. Dobrinja ist zwar noch nicht gefallen, aber von der übrigen Stadt abgeschnitten und wie die meisten Viertel ungemein gefährlich. Skenderija ist eine schwelende Ruine. Desgleichen das Postamt, das Parlaments- und das Kantonsverwaltungsgebäude, das Oslobođenje -Haus und die Bibliothek. Das Koševo-Stadion ist bis auf die Grundmauern abgebrannt, und auf den Sportplätzen werden die Toten begraben. Die Züge fahren nicht mehr. Die Straßen sind voller Trümmer, Güterwaggons und Beton, die an den Kreuzungen aufgetürmt wurden, um die Heckenschützen auf den Bergen zu behindern. Wenn man ins Freie geht, findet man sich damit ab, dass man womöglich getötet wird. Andererseits kann das, wie Dragan weiß, auch passieren, wenn man im Haus bleibt.
    Von Tag zu Tag wird er unsicherer, ob es das Sarajevo, an das er sich zu erinnern meint, jemals gegeben hat. Es entgleitet ihm Stück für Stück, wie Wasser, das man in der hohlen Hand hält, und er fragt sich, was übrig bleibt, wenn es verschwunden ist. Er weiß nicht genau, wie das Leben sein wird ohne Erinnerung daran, wie es früher in dieser herrlichen Stadt war. Als der Krieg ausbrach, versuchte er gegen den Verlust der Stadt zu kämpfen, wollte für sich bewahren, was er konnte. Wenn er ein Gebäude sah, versuchte er es so zu sehen, wie es einst gewesen war, und wenn er jemanden traf, den er kannte, versuchte er die Veränderungen in dessen Aussehen und Verhalten nicht zu beachten. Aber im Lauf der Zeit begann er die Dinge so zu sehen, wie sie jetzt waren, und eines Tages wurde ihm klar, dass er gar nicht mehr gegen das Verschwinden der Stadt ankämpfte, nicht einmal in Gedanken. Was er rundum sah, war die Realität.
    Er ist heute seit etwa einer Stunde auf der Straße und versucht sich von seiner Wohnung in der Stadtmitte, vom Markt aus nur ein Stück den Berg hinauf gelegen, nach Westen durchzuschlagen. Er versucht zur städtischen Bäckerei zu gelangen, wo er arbeitet. Seit fast vierzig Jahren ist er dort beschäftigt, und wenn der Krieg nicht wäre, würde er wahrscheinlich überlegen, ob er in Rente gehen sollte. Dragan weiß, dass er sich glücklich schätzen kann, diesen Job zu haben, zumal er dadurch von der Wehrpflicht befreit ist – obwohl nicht einmal das die Schurken, die überall nach neuem Kanonenfutter suchen, abhalten würde. Fast jeder in der Stadt ist mittlerweile arbeitslos, und auch er wird selten mit Geld entlohnt, was ohnehin mehr oder weniger nutzlos ist, aber er bekommt Brot, das er mit nach Hause nehmen kann, und wenn er in die Betriebskantine geht, kann er umsonst essen, unabhängig davon, ob er arbeitet oder nicht. Deshalb ist er, obwohl er heute nicht arbeitet, auf dem Weg zur Bäckerei, um dort zu essen, denn wenn er in der Bäckerei isst, muss er nicht zu Hause essen.
    Sein Zuhause ist eine Dreizimmerwohnung in Mejtaš, nördlich der Altstadt, im Haus seiner jüngeren Schwester und deren Familie. Früher lebte er in einer hübschen Wohnung in Hrasno, westlich von Grbavica. Jetzt verläuft dort die Front. Als er zum letzten Mal da war, hatte eine Granate die Wohnung völlig zerstört, und er ist sich ziemlich sicher, dass seither wahrscheinlich das ganze Haus eingestürzt ist. Jedenfalls konnte er dort nicht mehr bleiben, und er weiß, dass er nie wieder zurückkehren wird.
    Dragan konnte seine Frau Riza und ihren achtzehnjährigen Sohn aus der Stadt schaffen, bevor der Krieg ausbrach, und seiner Meinung nach müssten sie jetzt in Italien sein. Er hat seit drei Monaten nichts mehr von ihnen gehört und hat keine Ahnung, ob er jemals wieder etwas von ihnen hören wird. Eigentlich will er gar nichts von ihnen wissen, bevor der Krieg vorüber ist. Er hat von Frauen gehört, die aus
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