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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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angelangt, unmittelbar vor ihrer Tür. Strijela blickt erneut zu der Waffe auf ihrem Nachttisch. Sie weiß genau, was passieren würde, wenn sie sie einsetzt. Die Männer auf der anderen Seite der Tür würden sterben. Allesamt würden sie sterben, und sie würde über ihre Leichen steigen und auf die Straße treten. Es würde nur ein paar Sekunden dauern. Es wäre das Einfachste auf der Welt.
    Aber sie wird nicht zu dem Revolver greifen. Er liegt teils aus Gewohnheit auf dem Nachttisch, teils weil sie wissen sollen, dass sie bewaffnet war und sich hätte wehren können. Sie ist sich nicht sicher, ob sie den Hinweis wahrnehmen. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig ist nur, dass sie ihn hinterlässt.
    Sie fragt sich, wie ihr Leben hätte sein können, wenn kein Krieg gewesen wäre, wenn die Männer auf den Bergen nicht beschlossen hätten, dass sie erniedrigt werden mussten, dass Geschütze, Panzer und Granaten die Antwort auf ihr Verlangen nach der Opferrolle waren. Vielleicht hätte sie geheiratet. Vielleicht hätte sie ihren Doktor gemacht, einen guten Posten bekommen, sich eine hübsche Wohnung genommen und wäre abends mit ihren Freunden ins Theater gegangen. Sie hätte auch Kinder kriegen können. Sie mochte Kinder, früher jedenfalls. Es gab endlos viele Möglichkeiten.
    Jetzt jedoch ist sie mit ihren Möglichkeiten am Ende. Wenn sie die Waffe nimmt und die Männer auf der anderen Seite der Tür tötet, muss sie flüchten. Und früher oder später wird sie entweder wieder töten müssen, oder sie wird gefasst. Unterdessen wird sie ihre Verfolger hassen müssen. Und das will Strijela nicht mehr zulassen.
    Als der Cellist verschwunden war, ging Strijela hinunter auf die Straße, ohne sich darum zu scheren, ob jemand sie sah oder nicht. Sie betrachtete die Pflastersteine, die zertrümmerten Fenster, den Blumenhaufen. Sie dachte an nichts, konnte an nichts denken, was sie nicht schon tausendmal durchgegangen war. Deshalb stand sie einfach nur da. Der Cellist würde morgen nicht wiederkommen. Es würde keine Straßenkonzerte mehr geben. Sie war enttäuscht, dass es vorüber war. Strijela bückte sich und legte ihr Gewehr neben den Bogen des Cellisten.
    In ein paar Sekunden wird die Tür auffliegen. Mindestens vier Mann, vielleicht sogar mehr, werden hereinstürmen und ihr, so schnell sie können, möglichst viele Kugeln in den Leib jagen. Es wird nicht lange dauern, nur ein paar Sekunden, und hinterher werden sie etwas verlegen sein, weil sie so nervös waren.
    Sie hört, wie einer von ihnen einen Schritt zurückgeht, weiß, dass er gleich die Tür eintreten wird. Sie schließt die Augen, versucht sich an die Töne zu erinnern, die sie erst gestern gehört hat, eine Melodie, die nicht mehr da ist, aber sehr vertraut. Sie bewegt die Lippen, und kurz bevor die Tür aus den Angeln gesprengt wird, sagt sie mit kräftiger, ruhiger Stimme: »Ich heiße Alija, und niemand sagt mir, wen ich hassen soll.«

Nachwort
    Man sollte unbedingt zur Kenntnis nehmen, dass dieser Roman nicht den historisch genauen zeitlichen Ablauf der Belagerung von Sarajevo wiedergibt. Die Ereignisse, die in diesem Buch dargestellt werden, können sich unmöglich in dieser Reihenfolge zugetragen haben. Ich musste Geschehnisse aus drei Jahren so verdichten, als hätten sie in weniger als einem Monat stattgefunden. Ich hoffe jedoch, dass der Geist des Buches stimmt.
    Am 27. Mai 1992, während der Belagerung von Sarajevo, schlugen nachmittags um vier Uhr mehrere Mörsergranaten in einer Gruppe von Menschen ein, die hinter dem Markt an der Vase Miskina nach Brot anstanden. Zweiundzwanzig Personen wurden getötet und mindestens siebzig verletzt. In den nächsten zweiundzwanzig Tagen spielte Vedran Smailović, ein berühmter einheimischer Cellist, an dieser Stelle zu Ehren der Toten Albinonis Adagio in g-Moll. Seine Auftritte regten mich zu diesem Roman an, aber die Figur des Cellisten ist kein Porträt des echten Smailović, der Sarajevo im Dezember 1993 verlassen konnte und heute in Nordirland lebt.
    Der Name Strijela stammt aus einer von Radio Denmark unter dem Titel »Sniper« ausgestrahlten Dokumentation, die ich gehört habe. Eine Scharfschützin namens Strijela (Pfeil) wurde für die Sendung interviewt, doch man erfuhr sehr wenig über sie. Ich habe versucht, sie ausfindig zu machen, es ist mir aber nicht gelungen. Möglicherweise ist sie tot. Jedenfalls ist die Strijela in diesem Roman von mir frei erfunden.
    Die Belagerung von Sarajevo, die
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